23. März 1995 | Porträt | Der Totmacher

Warte, warte nur ein Weilchen...

Romuald Karmakar dreht mit Götz George seinen ersten Spielfilm DER TOTMACHER

Hier draußen im Osten Hamburgs scheint der Himmel noch höher und der Mond noch kälter zu sein als anderswo. Die riesigen Betonplatten des Schießstandes stehen wie gigantische Grabsteine im winterlichen Grau. In der Halle 29/55 weiter hinten wurden vor kurzem noch Panzer gewartet. Aber die Bundeswehr hat das Gelände aufgegeben. Am Tor hängt noch ein Schild, das auf das Photographierverbot hinweist. Bei Verstoß, heißt es, könne das Filmmaterial sichergestellt werden, §§ 96 und 109g StGB: Der Bundesminister der Verteidigung.

Man muß sich die leere Weite dieses Truppenübungsplatzes der ehemaligen Graf-Golz-Kaserne vorstellen, um ein Gefühl für die Enge des Drehortes zu bekommen. Der Film spielt ausschließlich in einem einzigen Zimmer, das im vorderen Teil der Panzerhalle aufgebaut worden ist. Was von außen so aussieht, als habe hier jemand eine überdimensionale Holzkiste abgestellt, ist von innen ein Behandlungsraum der Provinzial-Heil- und Pflegeanstalt Göttingen, wo im Herbst 1924 der Geheimrat Prof. Ernst Schultze ein psychiatrisches Gutachten über den Massenmörder Fritz Haarmann erstellen sollte. Aus dem 400seitigen Protokoll dieser zehntägigen Untersuchung hat Romuald Karmakar 80 Seiten Drehbuch destilliert, die er jetzt unter dem Titel DER TOTMACHER mit Götz George verfilmt.

Vom spektakulären Thema abgesehen, ist daran zweierlei bemerkenswert. Zum einen, daß ein deutscher Star auch mal wie ein richtiger Star reagiert und die Herausforderung einer ganz und gar nicht heldenhaften Rolle angenommen hat. Und zum anderen, daß ein deutscher Regisseur, der schon mit seinen Dokumentarfilmen wie Warheads einen eigenen Weg gegangen ist, sich in seinem ersten Spielfilm treu bleibt und es sofort schafft, eine Menge interessanter Leute um sich zu versammeln. Weniger bemerkenswert ist hingegen die Tatsache, daß bisher alle Verleiher abgelehnt haben, das Projekt ins Kino zu bringen.

Vielleicht braucht es jemanden von außen, um dieses Projekt richtig einschätzen zu können. Fred Schuler zum Beispiel, den 1963 nach Amerika ausgewanderten Münchner, der bei GLORIAvon John Cassavetes und KING OF COMEDY von Martin Scorsese die Kamera geführt hat . Dieser Mann hat 1987 mit Spielfilmen aufgehört, weil, wie er sagt, die Filme sich zu sehr ähnelten. In der Folge hat er vor allem Werbung gemacht, bis Karmakar mit seinem Projekt es geschafft hat, ihn dazu zu überreden, nach sieben Jahren wieder einen Spielfilm zu drehen. Das hat er, sagt Schuler in seinem amerikanisch eingefärbten Bayerisch, auch nicht bereut.

Für einen 30jährigen Spielfilm-Debütanten ist es natürlich beruhigend, Profis um sich zu haben. Aber es ist auch eine Herausforderung, die eigenen Visionen gegen erfahrene Leute verteidigen und durchsetzen zu müssen. Und wenn man die gut geölte Maschinerie des Films in der großen Holzkiste beobachtet, dann kann schon mal der Eindruck entstehen, der Film würde im Ernstfall auch ohne Regisseur zustande kommen. Aber erstens ist Film immer Teamwork, und zweitens hat Karmakar mit seinem ernsten, jungenhaften Auftreten eine ganz eigene Art zu kriegen, was er will. Irgendwann hat George den Regisseur zum Beispiel angeblafft, er solle nicht so destruktiv schauen. In der Tat ist Karmakar keiner, der dauernd den Arm um seine Schauspieler legt. Verunsicherung ist vielleicht nicht das Schlechteste bei einem Star, der vorrangig für seine Selbstsicherheit bekannt ist.

Seit drei Wochen wird in Halle 29/55 gedreht, eine Woche bleibt noch. Natürlich hat es Spannungen gegeben – das ist unvermeidlich, wenn man so lange Zeit auf so engem Raum zusammenarbeitet -, aber der Film ist über den Berg, und die Muster sehen großartig aus. Die Szenen werden nicht nur chronologisch gedreht, sondern auch in ungewöhnlich langen Einstellungen. Zum Teil hat es vom Team Szenenapplaus gegeben; Fred Schuler nennt George ‚Weltklasse‘ – und er hat immerhin schon De Niro und Pacino bei der Arbeit erlebt.

Götz George trägt verschmutzte Anstaltskleidung und kurze Haare und liegt mit geschlossenen Augen auf der Liege im Behandlungszimmer, um sich zu entspannen, während das Team noch in der Mittagspause ist. Der Film könnte für ihn ein neuer Anfang sein. Er weiß es, aber er sagt es nicht. Zumindest nicht dem Regisseur. Der war ganz verwirrt, als sein Star in einer Talkshow erzählt hat, wieviel ihm dieser Film bedeutet.

Aus der Nähe sieht George wirklich furchterregend aus. Man hat ihm sogenannte Brom-Akne ins Gesicht geschminkt, ein Nebeneffekt der damals üblichenRuhigstellung der Patienten mit Brom. Als George mittags seine Suppe löffelt, fragt er Karmakar unvermittelt, wo er eigentlich herkomme. Das sei, sagt Karmakar später, die erste persönliche Frage gewesen. Und da sind samt Proben schon mehr als vier Wochen vergangen.

In gewisser Weise blickt Karmakar auf den Schauspieler George wie der Professor auf seinen Patienten. Als Dokumentarfilmer wundert er sich über all die emotionalen Schwankungen, die mit der Schauspielerei einhergehen, und ist sich nicht ganz sicher, was ihm nun lieber ist: ‚Beim Dokumentarfilm ist das Drehen angenehmer, aber hinterher ärgert man sich immer, daß nie das auf den Bildern ist, was man gesehen hat. Hier ist es genau umgekehrt. Beim Drehen gibt es dauernd Probleme, aber dann ist immer mehr drauf, als man gedacht hat.‘

24 junge Männer hat Haarmann getötet und zerstückelt, und wie sehr er damit die Phantasie seiner Zeit beschäftigt hat, davon zeugt das Lied: ‚Warte, warte nur ein Weilchen…‘ Wie George da sitzt, im Untersuchungszimmer in Halle 29/55, schwankt er zwischen Gerissenheit und Getriebenheit, zwischen kindlicher Naivität und pathologischer Prahlerei. Das ist der Stoff, aus dem Bundesfilmpreise sind, und Götz George hat mit den ständigen unvermittelten Stimmungsschwankungen seiner Figur zu kämpfen. Vor der Aufnahme rekapituliert er die Sätze in sich ständig wiederholenden Wortkaskaden, wie wenn man mit der Nadel auf einer Platte die richtige Rille sucht. Als er soweit ist, lehnt er sich im Stuhl zurück und pafft genüßlich an einer Zigarre, die eine von mehreren ist, die der Requisiteur in der Mittagspause hinter den Kulissen mit einem Schlauch angeraucht hat, damit die Längen übereinstimmen.

Bild 117, Szene 16, Take 1: ‚Ihr letzter Wunsch?‘, fragt der Professor (Jürgen Hentsch), und Haarmann sagt: ‚Ein schönes Käsebrot, eine schöne Tasse Kaffee und eine schöne Zigarre. Wenn wir dann Kaffee getrunken haben, dann können wir schon gehen . . .‘ So geht es noch ein paar Drehbuchseiten weiter. Das wird ein-, zwei-, dreimal wiederholt, ohne Hänger und jedesmal ein wenig anders und immer mit einer neuen Zigarre. Das dauert, aus verschiedenen Blickwinkeln gedreht, den ganzen Nachmittag. Und wie weit sich George dabei aus Halle 29/55 entfernt hat, merkt man, wenn er, nachdem die Szene im Kasten – oder wie man sagt: gestorben – ist, fragen muß: ‚War die gestorben? Oder was?‘ Als tauche er nur langsam wieder in die Wirklichkeit auf.

‚Gib doch zu, daß du Angst vor mir hast‘, soll George seinen Regisseur angefahren haben. Nein, sagt Karmakar, Angst habe er wirklich nicht. Und das kann man ihm getrost glauben, nachdem er bereits an der Front im ehemaligen Jugoslawien, bei Kampfhundehaltern in Hamburg und bei Hahnenkämpfen in Frankreich gedreht hat. Wenn man ihn so sieht, dann hat man eher den Eindruck, daß er einer ist, der ausgezogen ist, das Fürchten zu lernen. Und bis es soweit ist, lehrt er einstweilen die anderen das Fürchten.

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