20. September 1994 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Die Sieger

Der letzte Schliff

Wie Dominik Graf einen Haufen Bilder und Töne in einen Thriller verwandelt: DIE SIEGER

Der Krach ist ohrenbetäubend: Reifen quietschen und Schüsse krachen, Granaten explodieren und ein Auto fliegt in die Luft. So schildert Dominik Graf in einer der aufwendigsten Szenen seines Films Die Sieger eine Geiselnahme, bei der ein Sondereinsatzkommando der Düsseldorfer Polizei ein Debakel erlebt. Und nachdem auf der Leinwand im Tonstudio der Bavaria die Hölle losgebrochen ist, fragt der Regisseur in die Runde, ob jemand die beiden Patronenhülsen gehört hat. Hat natürlich niemand, und es wird sie auch nie jemand hören. Aber sie sind da. Auf irgendeiner der siebzig Spuren fallen zwei Patronenhülsen zu Boden, und wenn man am Mischpult die 69 anderen Töne wegdrehen würde, könnte man sie hören: Klingklong.

Dominik Graf ist kein Spinner. Seit dem Erfolg Die Katze gilt er als einer der fähigsten Regisseure Deutschlands, und sein Polizeithriller DIE SIEGER, der morgen Premiere hat, ist mit zwölf Millionen Mark Produktionskosten einer der teuersten deutschen Filme dieser Jahre. Und vielleicht spiegelt die Geschichte mit den Patronenhülsen

besser als irgendetwas sonst das Wesen des Filmemachens, diesen eigentümlichen Kontrast zwischen der gewaltigen Maschinerie, die beim Drehen in Gang gesetzt wird, und der Sorgfalt, mit der dann noch den winzigsten Dingen Aufmerksamkeit geschenkt wird. Wie immer beim Film haben auch die Dreharbeiten von Die Sieger im vorigen Herbst einen gewaltigen Aufwand an Geräten und Gefühlen erfordert: Geschrei und Tränen hat es gegeben; Hubschrauber wurden eingesetzt und Straßen gesperrt – und dann geht es um zwei Patronenhülsen, die keiner je hören können wird; um das leiseste aller Geräusche, die in dieser einen Sekunde eines über zwei Stunden langen Films gleichzeitig zu hören sind. Und vielleicht ist diese Entscheidung genauso wichtig wie irgendeine andere im Verlauf der gut zweijährigen Arbeiten an diesem Film. Man wird es nie wissen, und deshalb ist Erfolg im Kino so schwer berechenbar.

Ballett der Bilder

Eigentlich war ein erstes Treffen mit Graf zwischen Weihnachten und Neujahr vereinbart, aber dann kam ein Fax, er habe das Material ‚zum ersten Mal in seiner ganzen Schrecklichkeit gesehen. Zu lang, zu zäh, zu konventionell. Schauder… Aber ich kenne diesen Zustand von nahezu jedem Film.‘ Also kein Treffen, sondern Klausur im Schneideraum.

Einen Monat später taucht Dominik Graf aus der Versenkung ins Material wieder auf. Er ist mit dem Film fast durch und hat seine Sicherheit wiedergefunden: 162 Minuten sind jetzt noch übrig. Am Faschingsdienstag soll die erste Rohschnittvorführung sein: ‚Wahrscheinlich sehe ich dann, was für einen Film ich wirklich gemacht habe, hätte machen können, und was für einen ich eindeutig und manchmal auch gottseidank vermieden habe. Und auch, was für einer es noch werden kann.‘

In dieser Zeit wird zum Teil an zwei Schneidetischen gleichzeitig gearbeitet, auf dem einen gesichtet, auf dem anderen geschnitten. Zwei Assistenten sind da, die jederzeit wissen, welche Einstellung wie oft gedreht wurde, und vor allem wo die einzelnen Aufnahmen zu finden sind. Sie haben die Filmstreifen auch sofort zur Hand und reichen sie weiter an Christel Suckow, die Cutterin. Das ist der Moment, wo sich die schlichte Arbeit in eine Art Ballett verwandelt.

Den Film einfädeln, die verschiedenen Enden zusammenkleben, die Tonspur an die richtige Stelle fahren, das scheint für die Cutterin alles eins zu sein. Während sie das eine Ende des Streifens in der Klebepresse an das vorhergehende Stück legt, wirft sie sich das andere Ende mit einem Schwung über die Schulter, um dann es dann beim Aufspulen durch die Hand abrollen zu lassen. Und beinahe gleichzeitig verlängert sie die braune Tonspur mit hellblauem Band, um jene Stellen zu überbrücken, für die noch kein Ton vorliegt. Und irgendwie wirkt sie dabei wie eine jener indischen Göttinen, denen mindestens sechs Arme gewachsen sind. Allerdings mit weißen Handschuhen.

Dominik Graf sitzt die ganze Zeit schräg hinter ihr und betätigt dann und wann seinen Casettenrecorder, um die Szenen mit Musik sehen und eine Vorstellung vom Rhythmus entwickeln zu können. Dafür verwendet er die Filmmusik, die Peter Gabriel zu Sorseses Letzte Versuchung Christi geschrieben hat. Und Christel Suckow schneidet und schneidet. Während das schwarze, braune und blaue Band wie aus Farbtöpfen in der Mitte des Tischs zusammenlaufen, beleben sich auf dem Bildschirm die Figuren, sprechen oder schweigen ein paar Sekunden und erstarren dann wieder. Und nochmal und nochmal und nochmal. Und dann wird die Sache verlängert oder verkürzt oder ganz anders zusammengehängt. Oder – was zwangsläufig oft genug vorkommt – völlig gestrichen.

Vor dem Schnitt wettet Graf regelmäßig mit Mitgliedern des Teams, wieviel Schnitte der Film am Ende haben wird. Daß dabei die Cutterin jedesmal die ist, die am weitesten daneben liegt, mag einen Eindruck davon vermitteln, wie sehr ihr die Arbeit in Fleisch und Blut übergegangen ist. Über 1500 Schnitte werden Die Sieger am Ende haben, und das ist natürlich nur ein Bruchteil der Schnitte, die Christel Suckow tatsächlich vorgenommen hat. Man fragt sich, ob der Regisseur da nicht Hemmungen hat, nach der zehnten Schnittvariante noch eine weitere zu verlangen? Das heißt: Film raus, Klebestreifen ab, neue Spule, neuer Schnitt, Film rein, Ton dran, hin, her, vor, zurück. Und ein Nachmittag genügt bereits, um diesen Prozeß bei aller Eleganz und Leichtigkeit auf Dauer als lähmend zu empfinden. Graf sagt jedoch: ‚Wenn jemand mit seinem Material umgeht wie die Christel, mit ihren kleinen Händen und ihren wunderbaren weißen Handschuhen, kommt man nicht dazu, falsche Entscheidungen zu treffen. Diese Art der Arbeit ist durch Kompromisse nicht korrumpierbar. Wenn jedoch beim Drehen irgendwer einen schweren Scheinwerfer sehr hoch anbringen mußte, das Licht aber trotzdem nicht stimmt, da überlegt man sich dann schon, ob man gleich sagt, das Licht ist Scheiße. Aber das rächt sich immer, wenn man sich von dieser Phalanx von Äußerlichkeiten von dem abhalten läßt, worauf man hinauswill.‘ Und seiner ruhigen, freundlichen Art zum Trotz sieht Graf nicht so aus, als könnte ihn irgendwer von dem abhalten, was er will.

Faschingsdienstag findet also in den Bavaria-Studios die erste Vorführung mit den Produzenten und dem Drehbuchautor statt. Der Film sei noch zu lang, heißt es. 15 Minuten müssen noch weg. Eine Woche Denkpause. In der Zeit wird der Film auf Video vorwärts und rückwärts angeschaut. Wo kann man kürzen, auf was kann man verzichten? Dann geht es wieder in den Schneideraum, einen Monat lang, am Ende sind nur noch 135 Minuten übrig. Bis Mai wird weitergefeilt, werden die fehlenden Geräusche besorgt, und die Schauspieler müssen nochmal zum Nachsynchronisieren ins Studio.

Den Rhythmus finden

Im Juli ist dann die Musik fertig, und die Mischung beginnt. Dialoge, Geräusche und Musik, die alle auf verschiedenen Tonbändern vorliegen, werden jetzt auf eine einzige Tonspur zusammengelegt. Weil das ganze auf Sechs-Kanal-Dolby-Stereo passiert, hat man jedoch die Möglichkeit, die Töne mit Codes zu versehen, die dann im Kino dafür sorgen, daß manches von links, einiges von rechts, und anderes von oben zu hören ist. Auch der Mischtonmeister Michael Kranz sitzt vor seinem Pult wie auf einem Thron, aber im Unterschied zum Schneidetisch ist sein Tisch gut zehn Meter breit und mit Hunderten von Knöpfen und Reglern übersät. An den Rändern sitzen Assistenten vor Computerbildschirmen, auf denen die Töne in Zahlen, Linien und Diagrammen erscheinen. Vorne auf der Leinwand läuft die Geiselnahme, die Schüsse krachen, die Granaten explodieren, und das Auto fliegt in die Luft. Einmal, zweimal, zehnmal. Erst nach einiger Zeit bekommt man ein Gehör für die Unterschiede: Wie sich die Explosion unterschiedlich schnell zu den Seiten des Raums hin ausbreitet; wie laut die Pausen sind; oder wie deutlich sich andere Geräusche im Hintergrund vernehmen lassen. Klingklong.
Wer glaubt, daß es da nur noch darum geht, der Wirklichkeit auf die Sprünge zu helfen, täuscht sich gewaltig. Am schönsten kann man das an einer Szene sehen, in der eine Politikergattin einen Polizisten vor ihrem Hotelzimmer mit der Hand befriedigt, was naturgemäß einige Zeit dauert. Da hört man neben dem Keuchen der beiden im Hintergrund einen Hubschrauber, das Wackeln ihrer Ohrringe und Armreifen und aus irgendeinem Nachbarzimmer einen Fernseher mit einem amerikanischen Film. Das wird im fertigen Film niemandem auffallen, aber es sorgt dafür, daß die Szene einen eigenen Rhythmus bekommt: ‚Wir haben uns gesagt, wehe, wir kommen dahin, daß wir Musik einsetzen müssen. Und mit den Tönen aus vier verschiedenen Ebenen haben wir es auch geschafft. Das hat Spaß gemacht.‘

Mitte August ist auch das geschafft. Aus dem ganzen fertig geschnittenen und gemischten Filmmaterial wird im Kopierwerk endlich eine saubere Kopie erstellt, die Null-Kopie. Die wird dann nochmal angesehen und korrigiert. Das ist auch nötig, weil zum Beispiel das Finale, das auf einem Berg in Dunkelheit spielt, viel zu hell ausfiel.

Am 18. August ist der Film fertig. ‚Die Vorführung war ok‘, sagt Graf, aber auch: ‚Der Film geht mir dermaßen auf die Nerven inzwischen, daß ich es kaum sagen kann.‘ Auch das ist normal. Acht Monate hat er jetzt fast täglich von früh bis spät daran gearbeitet, hat jede Szene hunderte von Malen vorwärts und rückwärts gesehen und versucht, seine Vorstellungen zu verwirklichen. Und davor lagen die nicht minder strapaziösen Dreharbeiten. Und noch weiter zurück die Arbeit mit dem Autor Günther Schütter am Drehbuch. Gut zwei Jahre hat die Geschichte ihn begleitet. Beim Einschlafen, beim Aufstehen, ohne Unterlaß. Jetzt ist er fertig. Und das Glück läßt auf sich warten.

Es ist so, als habe er sich den Film, den er irgendwann einmal vor sich sah, Schritt für Schritt von der Seele gearbeitet. Als habe er an seiner Vorstellung solange geschliffen und gefeilt, daß für ihn anstelle der Vision nur noch die Schliffe sichtbar sind.

Wofür, fragt man sich, nimmt er das alles auf sich, wenn er den Traum vom Film immer weiter aus den Augen verliert, je näher er ihm kommt? ‚Beim Film habe ich eine Kraft, einen Fleiß und eine Ausdauer kennengelernt, die ich bis dahin an mir noch nicht kannte. Die Leute sagen, es sei für die Sache, aber im Ende macht man es nur für sich selbst.‘ In ein paar Jahren, sagt er, wird er Die Sieger womöglich mal im Fernsehen sehen und vielleicht so etwas wie Stolz empfinden. Wird er. Zu Recht. Klingklong.

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