17. Februar 1996 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Jack Lemmon

Nobody's perfect

Auch das noch: Jack Lemmon bekommt einen Ehrenbären

Er hat das, was man bei Boxern Nehmerqualitäten nennt. Er kann wie kein anderer seinen Stolz verleugnen, Demütigungen wegstecken, Ärger runterschlucken. Jack Lemmon hat aus solchen Situationen eine Kunstform, und als geprügelter Hund eine Karriere gemacht. Ständig steht er kurz vor dem Selbstmord, der Scheidung oder der Entlassung. Immer wieder spielt er den Jedermann, der gnadenlos an den Rand seiner Existenz getrieben wird. Und wer glaubt, in The Apartment sei Lemmon bereits an die Grenze des Zumutbaren gegangen, hat noch nicht gesehen, wie er zuletzt in Glengarry Glen Ross oder Short Cuts Männer gespielt hat, die nicht einmal mehr willens sind, von ihrem Stolz noch zu retten, was zu retten ist.
Beim Weinen und Greinen, Jammern und Wimmern ist er die reinste Wucht. Aber der Witz daran ist, daß man ihm alles verzeiht. Schwer zu sagen, woran das liegt: Aber es gibt eine Art Choreographie des Leidens bei ihm, die ihm noch im Keller der Emotionen die Leichtfüßigkeit eines Tänzers verleiht. Jeder Katastrophe scheint er ihre eigene Melodie abzugewinnen, auf jeden Schlag mit einer neuen Schrittkombination des Herzens zu reagieren.

Jack Lemmon war schon ein Stadtneurotiker, als es diesen Ausdruck noch überhaupt nicht gab. Ob als Miesepeter, Speichellecker, Reisemuffel, Hypochonder oder Ordnungsfanatiker, stets ist er der Gefangene seiner Macken und Marotten, vor allem aber seines Körpers gewesen. Man muß nur zusehen, wie er in Ein seltsames Paar mit seinem Stirnhöhlenkatarrh seinen Partner Walter Matthau zur Raserei treibt. Bei kaum einem anderen Menschen, der sich so unwohl in seiner Haut fühlt, fühlt man sich als Zuschauer so wohl. Für jemanden, der so häufig unangenehme Eigenschaften verkörpert hat, ist Jack Lemmon ziemlich liebenswert geblieben.

In der Hommage an Lemmon wird in Berlin das Wichtigste gezeigt: von Irma la Douce bis Missing ist alles dabei, auch seine Regie-Arbeit Kotch, in der er sich bei seinem Freund und Partner Walter Matthau bedankte, indem er ihn zu einer der besten Leistungen seiner Karriere führte. Natürlich ist es Geschmackssache, aber etwas schade ist es schon, daß That’s Life fehlt, ein wunderschöner Film von Blake Edwards über das Älterwerden, die Angst vor dem Sterben und die Liebe zum Leben. Da zitiert Lemmon den Küchenchef zu sich, um ihm zu erklären, daß man Hummer nicht ins kochende Wasser wirft, weil sie dann vor Schreck zäh werden, sondern daß man sie in lauwarmen Weißwein legen und dann erst langsam erhitzen muß, damit sie sanft und beduselt in den Tod hinübergleiten. Und so wie er das erzählt, wird gleich klar, daß er selbst es ist, der Angst vor einem plötzlichen Tod hat.

Auf jeden Fall ist das eine Utopie, die man schön mit Lemmon in Verbindung bringen kann: Das ganze Leben sollte ein Schwimmen in Weißwein sein – der Tod besäße dann keinen Schrecken mehr. Wie die andere Seite des Lebens in Weißwein aussieht, konnte man allerdings in einem anderen Film von Blake Edwards sehen, in Days of Wine and Roses, wo Lemmon einen Alkoholiker spielt.

So oder so wurde sein Programm schon in Billy Wilders Some Like It Hot formuliert: ‚Nobody’s perfect!‘ Keiner bringt das so perfekt hin, nicht perfekt zu sein, wie Jack Lemmon.
MICHAEL ALTHEN

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