17. September 1999 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Patricia Cornwell

Eine Mördergrube im Herzen

Tote schweigen nicht: Der unheimliche Erfolg der Kriminal-Autorin Patricia Cornwell

Der Landsitz eines Verlegers ist in Flammen aufgegangen. In den verkohlten Überresten des Anwesens werden 19 tote Pferde und ein weiblicher Körper gefunden. Die Frau muss indes schon tot gewesen sein, bevor das Feuer ausgebrochen ist. Weil sie unter einer gläsernen Duschtüre gelegen hat, ist ihre obere Gesichtshälfte verschont worden – die Hitze hat allerdings aus den Augen alle Farbe herausgekocht. So beginnt „Point of Origin”, und diesen toten, milchigen Blick muss man schon aushalten können, wenn man an den Büchern von Patricia Cornwell gefallen finden will.

Offenbar gibt es genügend Leute, die sich von solchen grausigen Details des Todes nicht abschrecken lassen, denn gerade hat Cornwells neuer Roman „Black Notice” in Amerika Thomas Harris’ „Hannibal” an der Spitze der Bestsellerlisten abgelöst – und auch in Deutschland wächst der Erfolg. In „Black Notice” folgt sie zum zehnten Mal ihrer Heldin, der Gerichtsmedizinerin Kay Scarpetta, auf ihren Reisen in die hintersten Ecken des menschlichen Körpers und die finstersten Regionen der menschlichen Seele – bei uns sind erst acht dieser Romane erschienen (gebunden bei Hoffmann und Campe und als Taschenbücher bei Droemer und Goldmann). 24 Millionen Dollar hat sie für drei Bücher bekommen und spielt damit fast schon in derselben Liga wie King, Crichton oder Grisham. Verbrechen zahlt sich für sie also aus. Aber was genau ist es, was Patricia Cornwell so verdammt erfolgreich macht? Und wer ist die Frau, die sich hinter der Ich-Erzählerin Kay Scarpetta versteckt?

Kay Scarpetta ist nicht irgendeine Gerichtsmedizinerin, sondern sogar Chief Medical Examiner des Bundesstaates Virginia. Dass sie es so weit gebracht, verdankt sie ihrem Ernst und ihrer Gewissenhaftigkeit, also im Grunde der Tatsache, dass sie den Tod sehr persönlich nimmt. Wer auch immer auf ihren rostfreien stählernen Autopsie-Tischen zu liegen kommt, hat eine traurige Geschichte zu erzählen, und es ist Scarpettas Sache, die Toten zum Sprechen zu bringen. Ob es sich nun um den Dreck unter den Fingernägeln handelt oder um den Mageninhalt der Toten – jedes Detail kann der Schlüssel zu den Geschichte sein. Meistens gibt der Leichnam erst unterm Mikroskop sein Geheimnis preis. Die Prosa ist also mitunter die reinste Haarspalterei, aber genau das macht die Bücher so spannend. Je präziser und genauer die Arbeitsvorgänge in der Pathologie beschrieben werden, desto anschaulicher wird diese Welt. Manchmal hat man fast den Eindruck, die Faszination für die unbarmherzige Arbeit rührt aus dem Bedürfnis her, irgendwie den Geheimnissen des Todes (und des Lebens) auf die Spur zu kommen und ihre Schrecken auf diese Weise zu bannen. Nichts ist undurchsichtiger als der Tod – hier wird er sozusagen transparent.

Natürlich ist Cornwell nicht die einzige Autorin, deren Erfolg sich aus der klinischen Detailwut speist. Diese praktische Seite des Erzählens, diese fast pädagogische Lust an der Funktionsweise von Dingen, dieser Blick ins Räderwerk des Alltags ist es, was viele Bestseller ausmacht: Was passiert bei einem Flugzeugabsturz? Wie bestimmt man den Zeitpunkt des Todes? Wie funktioniert ein Atom-U-Boot? Was bei John Grisham die Winkelzüge des Anwaltswesens, bei Frederick Forsyth die Schliche der Spione und bei Thomas Clancy die Baupläne militärischer Waffensysteme sind – das ist bei Cornwell eben die Vielfalt der forsensischen Pathologie. Im Unterschied zur seelen-, aber durchaus nicht reizlosen Geometrie in den Bauplänen ihrer Kollegen liegt über den Romanen Cornwells eine undurchdringliche Melancholie, die kein Glück der Welt je vertreiben könnte. Und die rührt nicht allein vom grausigen Gegenstand her, mit dem sich die Bücher befassen, sondern von jener existenziellen Einsamkeit, der die Heldin nirgend je entfliehen kann. Es wirkt geradezu so, als stürze sich Scarpetta vor allem deshalb mit solcher Besessenheit auf all die mikroskopischen Indizien, weil sie in den streng wissenschaftlichen Zusammenhängen eine Folgerichtigkeit finden kann, die ihr das Leben schuldig bleibt. Wenn sich schon keine Antworten auf das Warum entdecken lassen, so doch wenigstens für das Wie. Das Lied, das diese Romane singen, lautet: „Ich weiss nicht, was soll es bedeuten, dass ich so traurig bin…” Wahrscheinlich ist Scarpetta nicht so traurig , weil sie diesen Beruf hat, vielmehr hat sie den Beruf gewählt, weil sie ohnehin so traurig ist.

Womit wir bei der Autorin selbst wären, der man nach Lektüre ihrer Bücher gerne selbst auf die Spur kommen würde. Man darf durchaus vermuten, dass Cornwell mit ihrer Ich-Erzählerin ein Bild von sich entworfen hat, das aller Idealisierung zum Trotz mehr über sie verrät, als die Autorin vielleicht wahrhaben möchte. Ihre willensstarke, nahezu unfehlbare, geschmackssichere Heldin, die mit ihrer Autorin nicht nur die Vorliebe für italienische Küche und französische Weine teilt, bleibt letzten Endes zutiefst einsam. Dabei hat sie durchaus Begleiter, die dem Leser im Laufe von zehn Romanen mehr ans Herz gewachsen sind als ihr selbst. Zum einen Detective Pete Marino, ein Polizist, wie er im Buche steht, ungehobelt, übergewichtig, geschieden. Er raucht zu viel, isst ungesund und hat stets die falschen Frauen – und ist doch ein herzensguter Kerl, dessen Verdienste allein Scarpetta zu würdigen weiß. Und zum anderen Scarpettas Nichte Lucy, die Tochter ihrer verhaßten Schwester, die sich früh die kriminalistische Tante zum Vorbild genommen hat und später beim FBI untergekommen ist. Die Ersatztochter ist eine Karikatur Scarpettas, mit dem Unterschied, dass sie wesentlich emotionaler und außerdem lesbisch ist. Je drastischer die beiden Nebenfiguren gezeichnet werden, desto näher liegt die Vermutung, dass sie gewissermaßen Abspaltungen von Scarpetta sind: als habe die Erzählerin wie beim Exorzismus ihrer vorbildlichen Heldin diese Seiten ausgetrieben, die disziplinlose Lebensführung von Marino und die Emotionalität und Homosexualität von Lucy. Andererseits strotzen gerade diese beiden Pole nur so vor Leben, während die Männer, in die sich Scarpettas verliebt, nur Abziehbilder sind, bemerkenswert klischierte Vorstellungen von Traumpartnern, gut gebaut, gut gekleidet, gut im Beruf. Kein Wunder, dass die Liebe in diesen Büchern keine Chance gegen den Tod hat und dass keine Sonne die Nebel unüberwindlicher Trauer verscheuchen kann.

Das Umschlagfoto von Cornwell auf „Black Notice” zeigt eine Frau, die ganz und gar dem selbst geschaffenen kühlen Idealbild Scarpetta gleicht. Wenn man frühere Fotos der Autorin damit vergleicht, erkennt man, dass der Unterschied nicht im feinen Zwirn alleine liegt. Ein im Mai 1997 erschienenes Porträt der Zeitschrift Vanity Fair bestätigt diese Vermutung: Cornwell hat sich tatsächlich nach dem Bilde ihrer Heldin erschaffen. Wenn man weiß, wie freundlich diese Artikel den Porträtierten meistens gesonnen sind, dann erstaunt schon die offene Antipathie, die hier Cornwell entgegentritt. Sie erscheint als Karrieristin, die Beziehungen so besessen beginnt, wie sie diese abrupt beendet. Als unreifes Kind, das unter der Scheidung ihrer Eltern und dem frühen Tod ihres Vaters leidet und durch keinen Erfolg der Welt je zufrieden zu stellen ist. Als Frau, die ihre Macht ausspielt und über Leichen geht. Womöglich, ahnt man da, sind all die Bücher nur die Mördergrube, die Patricia Cornwell aus ihrem Herzen macht.