29. September 1992 | Süddeutsche Zeitung | Porträt | Michelangelo Antonioni

Amor vacui

Der italienische Regisseur Michelangelo Antonioni wird 80

Ferrara, schrieb Giorgio de Chirico 1920, sei eine außerordentlich metaphysische Stadt. Eine unbestimmbare und unerklärliche Atmosphäre, die besonders an bestimmten Plätzen herrsche, halte „die Erinnerungen an das Mittelalter in einer geheimnisvollen Schwebe zwischen Himmel und Erde – so wie einbalsamierte Feldermäuse im Laboratorium des Alchimisten unter der Decke hängen.“

Während der Surrealist über die metaphysische Bedeutung Ferraras sinnierte, wuchs Michelangelo Antonioni dort auf. Es könnte also durchaus sein, daß diese Stadt damals etwas besaß, was nicht nur de Chirico ins Auge fiel, sondern auch Antonionis Blick prägte: jene metaphysischen Exterieurs, die aus jedem Platz ein Geheimnis machen, und jene Melancholie der Städte, die jede Leere unbarmherzig mit Schwermut füllt. In diesen surrealistischen Gefilden spielen bereits die eher neorealistischen Anfänge des Regisseurs.

Tennis habe der Sohn aus gutbürgerlichem Hause in seiner Jugend gespielt, heißt es, und F. Scott Fitzgerald geliebt. Ein gepflegtes Auftreten hat ihn schon immer ausgezeichnet, diesen feingliedrigen Typen mit dem eleganten Profil, und darum ist es auch kein Wunder, daß ihm in den Sechzigern die Aura eines Popstars anhaftete, eine Art intellektueller Sex-Appeal. Das hat die Aufnahme der Spätwerke zwischen ZABRISKIE POINT und IDENTIFIKATION EINER FRAU eher behindert. Aber gespalten haben seine Filme das Publikum schon immer, besonders 1959 L’AVVENTURA, dessen Abenteuer darin bestand, einer Geschichte ihr Ende zu verweigern.

Die Geschichten sind bei Antonioni ohnehin nicht mehr das, was sie einmal waren. Sie bestehen aus Löchern und Lücken, Ellipsen und Eklipsen, die sich der gängigen Art des Erzählens widersetzen. Die damit verbundenen Erwartungen nutzt der Regisseur jedoch durchaus für seine Zwecke: Wie in BLOWv UP, wo ein Photograph glaubt, Zeuge eines Verbrechens geworden zu sein, aber letztlich nie erfährt, was wirklich passiert ist. In Julio Cortázars Vorlage „Teufelsgeifer“ steht der schöne Satz: „Unter den vielen Möglichkeiten, das Nichts zu bekämpfen, ist eine der besten, Photographien zu machen.“ Tatsächlich ist damit Antonionis Methode treffend beschrieben: Das Nichts wird in Bildern gebannt. Aber es ist nicht nur ein Kampf, sondern auch eine verzweifelte Liebe, die dabei zum Ausdruck kommt. Der Titel einer italienischen Monographie bringt es auf den Punkt: Amor vacui.

Um die Leere herum

Im Report ABOUT MYSELF erzählt Antonioni, wie einst ein vor ihm gehender Mann den Arm hob, um mit dem Finger auf etwas zu zeigen. Der Linie des Fingers folgend findet der Verfolger aber nichts Zeigenswertes: „Der Punkt ist ein leerer Zwischenraum zwischen zwei Häusern, leer von allem außer der Leere.“ Um die Leere herum und in sie hinein erfindet der Erzähler im weiteren Verlauf Figuren, Situationen und Konstellationen. Man kann also richtig verfolgen, wie die Leere einen Sog auf ihn ausübt. Leere, Abwesenheit, Verschwinden, das sind seine Themen. Das Zentrum seiner Filme ist leer, und die Helden machen keine Anstalten, die Leerstelle zu besetzen. Der moderne Mensch bei Antonioni steht an der Peripherie einer Welt, deren Zusammenhänge ihm fremd sind. Deshalb suchen die Filme immer wieder Szenerien auf, die so ungewöhnlich, undurchsichtig und unmenschlich wirken, daß sie an einen geheimnisvollen Plan glauben lassen: das steinerne Meer am ZABRISKIE POINT, ein Raffinerieturm in DER SCHREI, die Architektur Gaudís in BERUF: REPORTER oder die Weltraumantennen in DIE ROTER WÜSTE. Ob natürliche oder urbane Landschaften, der Blick bleibt der gleiche: Überall sieht er Stein gewordene Gefühle und in Formen gefangene Bewegung.

In diesen wüsten Landschaften unter dem Mond wandeln vereinzelt die Menschen wie jenes Paar in DIE NACHT, in jenem Zustand aufgekratzter Traurigkeit und umfassender Orientierungslosigkeit, der einem auf Festen befällt, die zu lange gedauert haben. Diese geheimnisvolle Schwebe zwischen Nacht und Tag, zwischen Angst und Hoffnung, ist Antonionis Reich. Es ist die Welt der Moderne: ein Fluch, ein Wunder.

„Du kannst das Fell des Tigers zeichnen, aber nicht seine Knochen“, heißt es in der China-Dokumentation, „du kannst das Antlitz eines Menschen zeichnen, aber nicht sein Herz.“ Das Herz und die Knochen des Menschen hat Michelangelo Antonioni sichtbar gemacht, durch die Art, wie er ihn gezeichnet hat. Nach dem Gehirnschlag von 1985 wird es wohl keinen weiteren Film mehr geben. Er sei kommunikationsunfähig, sagt seine langjährige wunderbare Weggefährtin Monica Vitti. Seine Filme werden für ihn sprechen.

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