08. Februar 1994 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Joseph Cotten

Der Mann ohne Eigenschaften

Joseph Cotten mit 88 Jahren gestorben

„Wenn Sie mich anrufen würden“, sagte Alida Valli in DER DRITTE MANN, „und fragten, wie Sie aussehen, oder ob Sie einen Schnurrbart tragen, ich wüßte es nicht.“ Da traf sie seinen wunden Punkt, seine Eigenschaftslosigkeit. Adjektive wollten an ihm so wenig haften bleiben wie Gefühle, und Blicke gingen durch ihn hindurch. Und dennoch steht er am Ende des Films da, als sie von der Beerdigung kommt, zündet sich eine Zigarette an und folgt ihr. Ein geprügelter Hund, den keine Demütigung vertreiben kann, ein Verlorener, der Halt sucht, ein Mann, dem die Schatten überall hin folgen.

Der Amerikaner Joseph Cotten war einer der ganz Großen. Aber einer, der sich immer klein machte. Dabei war sein erster Film immerhin CITIZEN KANE, sein zweiter THE MAGNIFICENT AMBERSONS, sein dritter JOURNEY INTO FEAR, alle gemeinsam mit Orson Welles. Darauf warten andere ein Leben lang vergeblich. Und dafür, daß es nach diesem gewaltigen Einstieg ins Gewerbe eigentlich nur noch bergab gehen konnte, hat seine Karriere durchaus gehalten, was das Debüt versprach: DUEL IN THE SUN, UUNDER CAPRICORN, NIAGARA.

Joseph Cotten wurde am 15. Mai 1905 in St. Petersburg, im Staate Virginia, geboren und war Theaterkritiker, ehe er über den Broadway zu Orson Welles‘ berühmten Mercury-Theatre stieß. In CITIZEN KANE , wo er auch am Drehbuch mitgearbeitet hat, war er dann der Mann im Hintergrund, der Romantiker, der in der Theorie weiß, was in der Praxis der Liebe immer scheitert. Die Liebe war ein Phantom für ihn, besonders bei William Dieterle in LOVE LETTERS und PORTRAIT OF JENNY, wo Cotten sich in Schattenfrauen verliebt, die ihn aus der Wirklichkeit erlösen sollen. Alfred Hitchcock hat dann dieses untergründige Verlangen nach Auslöschung zum Mordtrieb pervertiert, der den trügerisch freundlichen Onkel in SHADOW OF A DOUBT umtreibt. Wo Joseph Cotten anfangs das Ende mit Schrecken immer vermieden hat, da lebten seine späteren Figuren häufig in einem Schrecken ohne Ende.

Seine Normalität war ihm oft ein Fluch, sein Gesicht schien stets im Schatten zu liegen: umso begnadeter seine Fähigkeit, daraus eine Kunst zu machen. Sein letzter großer Auftritt war in HEAVEN`S GATE. Am Sonntag ist Joseph Cotten in Los Angeles gestorben.

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