19. November 1999 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Paul Bowles

Nur Finsternis und völlige Nacht

20 Mal 
Vollmond

Der große amerikanische Erzähler Paul Bowles ist im Alter von 88 Jahren in seiner Wahlheimat Marokko gestorben.

Es gibt ein wahnsinnig schönes Foto aus dem Jahr 1989. Da sitzen die Schauspielerin Debra Winger und Paul Bowles irgendwann während der Dreharbeiten zu HIMMEL ÜBER DER WÜSTE auf einem Balkon im warmen nordafrikanischen Abendlicht. Er sitzt versunken in seinem etwas zu großen Jackett, undurchdringlich und schweigsam, womöglich geschmeichelt durch die Anwesenheit der Schauspielerin, wovon er sich allerdings nichts anmerken lässt. Sie blickt versonnen ins Abendlicht, vermutlich immer noch ein wenig eingeschüchtert, aber auch beschützt durch die Präsenz des alten Mannes, den sie wahrscheinlich mit tausend Fragen zu ihrer Rolle löcherte, auf die er schätzungsweise nicht unbedingt befriedigende Antworten gab.

Rührend sind die beiden, wie sie da so sitzen, zwei Amerikaner in Tanger, eingehüllt in die Erfahrungen der Fremde, einander ausgeliefert durch jenes Buch, das Bowles 40 Jahre zuvor geschrieben und seither sicher mehrfach verflucht hat: „The Sheltering Sky“ – die Geschichte eines Paares, das nur noch durch die Erinnerung an ihre Liebe und die Solidarität der gemeinsamen Reise zusammengehalten wird. Man fragt sich, ob sie an das Gleiche denken, an Bowles verstorbene Frau, die Autorin Jane Bowles zum Beispiel. Vielleicht vergleicht der alte Mann Debra Winger tatsächlich gerade mit dem Bild, das er von seiner Frau bewahrt hat. Und vielleicht versucht die Schauspielerin gerade, sich in Jane hineinzuversetzen, indem sie sich sehnsuchtsvoll in die Atmosphäre Tangers fallen lässt – wobei Bowles ihr die fixe Idee auszutreiben versuchte, ihre Rolle habe irgendwas mit Jane zu tun. Wenn das so gewesen sein sollte, dann müsste man sich Jane Bowles zu den beiden hinzu denken, wie ein Engel dieses Bild durchschwebend.

Vielleicht war aber auch alles ganz anders, damals 1989, als Bernardo Bertolucci den HIMMEL ÜBER DER WÜSTE mit Debra Winger und John Malkovich verfilmte und Paul Bowles die Rolle des Erzählers übernehmen ließ, der am Anfang und Ende des Films in einem Café vor lauter Spiegeln sitzt und jene Sätze spricht, die neben der Abbildung oben stehen: „Wie oft wird man noch den Vollmond aufsteigen sehen? Vielleicht zwanzig Mal. Und doch scheint alles grenzenlos. ”

Da ist natürlich schon alles drin, die Illusionen, die sich die Menschen machen, und die Erbarmungslosigkeit, mit der das Leben sie zunichte macht, die Fügungen des Schicksals und die Launen des Zufalls, die Gefangenheit in den Erinnerungen und die Schonungslosigkeit des Alterns. Es gibt nichts Traurigeres als die Bücher von Paul Bowles, könnte man sagen, aber auch nichts Tröstlicheres.

Es ist jedenfalls kein Wunder, wenn man sich angesichts eines Fotos vor dem Hintergrund seiner Romane Gedanken macht, die über das bloße Sichtbare hinausgehen. Auch wenn gerade ein Buch wie „Himmel über der Wüste“ seine Helden immer wieder aufs Brutalste damit konfrontiert, dass es jenseits des Sichtbaren eigentlich nichts zu erhoffen gibt. So betrachtet das Ehepaar in einem raren Moment der Zweisamkeit den Wüstenhimmel, als der Mann sagt: „Der Himmel hier ist seltsam. Wenn ich ihn so betrachte, habe ich oft das Gefühl, dass er etwas Kompaktes ist, das uns vor dem beschützt, was dahinter lauert. ” „Kit schauerte leise, als sie fragte: ,Vor dem, was dahinter ist?‘ ,Ja. ‘ ,Aber was ist dahinter?‘ Ihre Stimme war sehr klein. ,Nichts, nehme ich an. Nur Finsternis. Völlige Nacht. ”

Her voice was very small – wunderbare Stelle. Im Film versuchen die beiden danach, sich auf dem steinigen Boden zu lieben, während die Kamera immer höher steigt und das Paar so zeigt, als wären die Menschen die Brüder der Steine, nichts weiter. Im Buch hingegen fahren die beiden zurück ins Hotel, und der Mann nutzt einen unbeobachteten Moment, um aufs Fahrrad zu steigen und noch einmal allein an den Ort in der Wüste zurückzufahren. Er wird ihr davon nicht erzählen, weil sie kein Verständnis für seine Rückkehr ohne sie haben würde: „Oder vielleicht, dachte er, würde sie es nur zu gut verstehen. ”

Der Mensch ist bei Bowles mit sich selbst allein – bestenfalls gibt es eine Einsamkeit zu zweit – und hat nichts als seine Erinnerungen. Das Schicksal, so zitierte Bowles Eduardo Mallea, „ist nur insofern ein Persönliches, als es etwas zu gleichen scheint, was längst in seiner Erinnerung ist. ” So wimmelt es in seinen Büchern von Déjà-vus und Doppelgängern, und ein stetes Gefühl durchzieht sie, alles schon einmal erlebt zu haben und allen Menschen schon einmal begegnet zu sein. Es ist die Qual der unscharfen Erinnerung, die stets die trügerische Illusion nährt, ein schärferer Blick werde Ordnung ins Chaos bringen und die Geheimnisse klären. No such luck!

Verlassen wir die Wüste: Paul Bowles ist 1910 in New York geboren, studierte in Berlin und Paris Musik, war Schüler von Aaron Copland, wurde Komponist und ist nach ersten literarischen Versuchen in den Vierzigern auf Reisen gegangen: Lateinamerika, Südasien, Nordafrika. 1938 hat er Jane geheiratet, die ungewöhnliche Literatin, die Truman Capote als „ewiges Straßengör” bezeichnete. Liest man Janes Briefe an Paul, dann spürt man vor allem ihre Scheu vor seiner Souveränität. Letztlich war ihre Ehe wohl die Zweckgemeinschaft zweier Menschen, die ohnehin mehr dem eigenen Geschlecht zugetan waren. Was seine Rolle angeht, machte sich Bowles auch keine Illusionen, aber nach ihrer Gehirnblutung 1957 umsorgte er Jane bis zu ihrem Tod 1973. Bowles ist im Unterschied zur Beatnik-Szene in Tanger geblieben und hat der dortigen Literatur eine Stimme verliehen.

Vier Romane hat Bowles geschrieben, auf Deutsch gibt es nur noch den „Himmel über der Wüste“, obwohl Goldmann noch in den Achtzigern die anderen drei neu aufgelegt hatte: „So mag er fallen”, „Das Haus der Spinne” und „Gesang der Insekten”. Vier grandiose Romane, vier kurze Schläge an das Tor des Unheils. Man muss an sie so herangehen wie man bei strömenden Regen ans Fenster tritt. In einem Zustand aufgekratzter Beschaulichkeit, in dem man plötzlich Geräusche und Gerüche wahrnimmt, die einen sonst nicht berühren. Eine Zeit lang bleiben die Eindrücke stehen, dann versickern und verdunsten sie wieder. In dieser quasi wetterfühligen Prosa sind die allerflüchtigsten Empfindungen zu Hause. Es gibt also nichts Schöneres in den Büchern von Bowles, als wenn auf einmal ein kühler Wind vom Meer heraufbläst oder die Blätter nach einem schweren Regen in der Sonne tropfen – aber es gibt auch nichts Verzweifelteres als die Beschwörung dieser Momente. Die unverrückbare Präsenz der Dinge ist der einzige Trost, der letzte Haltegriff vor dem Sturz ins Bodenlose. So schonungslos wie er hat keiner mit dem Personal seiner Bücher aufgeräumt. Am Ende bleibt nur der gnadenlose „Gesang der Insekten”.

Gestern ist Paul Bowles im italienischen Hospital von Tanger gestorben. Der letzte Satz seiner Autobiografie „Rastlos” lautete: „Um es richtig zu machen, hätte der Sterbende seinem kleinen Abschiedsgruß drei Worte hinzufügen müssen, und die wären: „Gott sei Dank“.

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