26. April 1993 | Süddeutsche Zeitung | Interview | Peter Sloterdijk

Perlen des kollektiven Wahnsinns

Ein Gespräch mit Peter Sloterdijk über Kino und andere Bilder

Als Denker zwischen ‚zynischer Vernunft‘ und ‚Eurotaoismus‘ hat Peter Sloterdijk sich in den letzten zehn Jahren auf der Bühne der europäischen Gesellschaftsphilosophie etabliert. Zur Eröffnung einer neuen Reihe ‚Reden über Film‘, die vom Arri-Kino gemeinsam mit dem Kulturreferat und der SZ veranstaltet wird, hielt der Kultur- und Zeitdiagnostiker, der momentan an der Staatlichen Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe lehrt, gestern im Münchner Arri einen Vortrag über ‚Sendboten der Gewalt: Zur Metaphysik des Actionkinos am Beispiel von James Camerons Film TERMINATOR 2‘. Sloterdijk sieht den modernen amerikanischen Actionfilm als ‚eine Gattung experimenteller Vor- und Frühgeschichtsschreibung, die mit den Mitteln avancierter Film-Technik die archäologischen Geheimnisse der Menschheit bearbeitet‘. Das Actionkino behandelt die ‚Geschichte des Davonkommens aus Verfolgungen‘ als entscheidendes Moment der Menschheitsgeschichte, ein Moment nicht der Humanisierung, aber der Hominisation: ‚Man könnte geradezu von der Geburt des Menschen aus dem Geist des Gegenangriffs sprechen.‘ Aus Anlaß dieses Vortrags unterhielten sich Michael Althen und Fritz Göttler mit Peter Sloterdijk.

Können Sie Ihre drei Lieblingsfilme nennen?
Nein, das könnte ich nicht, wohl aber Filme, auf die ich am häufigsten Bezug nehme. Mir ist öfter passiert bei öffentlichen Vorträgen, daß man bestimmte komplexe Zusammenhänge leichter erklären kann, wenn man sich zum Beispiel auf eine Szene aus BEN HUR bezieht: Das Problem Rom und Jerusalem, von BEN HUR aus läßt sich relativ schnell aufbauen, worum es dabei gegangen ist. Es fehlt natürlich noch die dritte Hauptstadt des Altertums, aber Athen ist ein Komplex, um den das Kino immer einen großen Bogen gemacht hat. Die Römer hingegen haben es den Regisseuren offensichtlich angetan – und die Juden. Also Heilsgeschichte und Reichsgeschichte, und wo die beiden sich miteinander verquicken, das hat offenbar eine Affinität dazu, was Kino kann und will: die große Story. Ähnlich ist es mir gegangen mit LAWRENCE VON ARABIEN, wenn ich erklären wollte, was ist eigentlich ein Held?
Das deutet alles auf eine eher ‚pädagogische‘ Beziehung zum Kino; haben Sie denn auch eine persönliche?

Dieses Moment von ‚Pädagogik‘ ist eher ein ironischer Zusatz, der sich später ergeben hat. Eigentlich habe ich zum Kino heute kein besonderes Verhältnis mehr, das hatte ich in meinen ‚junghegelianischen‘ Jahren. Die Junghegelianer haben ja den Versuch gemacht, aus dem großen Gehäuse des Systems auszubrechen in eine Form dessen, was sie die Unmittelbarkeit, das Leben, die Praxis genannt haben, immer im Bewußtsein, daß das nicht pure Natur ist, sondern viel Geschichte, viel Vermittlung in sich hat.
Das ist das Gegenteil zum Vorwurf sonst, das Kino sei eine Form von Flucht.
Das ist vielleicht nicht konträr zu dieser Deutung, denn dieses Bedürfnis nach einem ‚Philosophisch werden‘ in der Welt selbst hat sich ja auch ausgedrückt in dem Wuchern alternativer Lebensformen. Auch denen ist vorgeworfen worden, sie seien realitätsflüchtig.
Gibt es einen Zusammenhang zwischen Kino und Mystik, Kino und Kult?
Da ist einerseits natürlich der Starkult. Aber dann gibt es ein zweites Kultphänomen, das betrifft die intime oder künstlerische Dimension des Kinos, und die hat vielleicht wirklich einen Bezug zur Mystik, wenn man unter Mystik versteht, auf eine ganz tendenzlose Weise Oberflächen auf sich wirken zu lassen. Ich kann mir schon vorstellen, daß Leute, die sehr viel Kino sehen, am Ende da in einen Zustand kommen können – einen semifötalen, intrauterinen Zustand -, wo man das Gefühl hat, von einer geborgenen Innensphäre aus eine fast beliebige Außenwelt anschauen zu können. Das heißt: Hauptsache Kino, egal welches Programm.
Ähnlich ist es heute beim Fernsehen: Vor zehn Jahren noch spielte es für den Zuschauer eine Rolle, welches Programm läuft, heute schaltet man einfach an.
Das ist sicher auch ein neuer Habitus. Wenn Sie heute die Zeitung aufschlagen, da werden Ihnen zwanzig Programme am Tag angeboten, da muß man sehr verzweifelt sein, um die alle durchzuschauen, mit der Haltung, hoffentlich etwas zu finden. Ich weiß nicht, ob ich die letzten Jahre im Fernsehen überhaupt einen Film zu Ende gesehen habe. Das hat mit diesen höllischen Fernsteuergeräten zu tun, die dieses Springen ermöglichen. Da könnte man richtig tiefsinnig werden, aber wahrscheinlich hat irgendein schlauer Mensch das schon gemacht, eine Soziologie des Tele-commanding.
Serge Daney zum Beispiel, der französische Kritiker der Cahiers du Cinéma und der Libération.
Schauen Sie viel fern?
Ich komme immer weniger dazu, aber wenn, dann habe ich auch eigentlich kein Interesse am einzelnen Programm mehr. Ich will Nachrichten haben, und ich mache die Beobachtung, daß das Fernsehen für mich zunehmend zu einem zweiten Radio wird, also eigentlich zu einem Bilderradio. Ich vermute, daß die Zeit, da das Fernsehen überwiegend eine Bildkultur war oder sich so präsentieren wollte, langsam zu Ende geht. Das kann man ja sehr leicht testen, indem man sich fragt, was ist schlimmer, ein Bild- oder ein Tonausfall? Wenn der Ton weg ist, nützen einem die besten Bilder nichts. Dann ist plötzlich das Zimmer furchtbar leer, dann sind da plötzlich stumme flimmernde Bildsequenzen zu sehen, in die einzusteigen kaum jemandem gelingt.
Man macht auch immer mehr nebenbei beim Fernsehen.
Ich habe eine Technik entwickelt, Dissertationen oder neue wissenschaftliche Literatur während ‚Derrick‘ zu lesen.
Wie kamen Sie auf den TERMINATOR 2?
Da bin ich eigens ins Kino gegangen, weil ich intuitiv und auch durch die Vorankündigung einen Eindruck hatte, worum es da geht. Ich bin seit langem überzeugt, daß für meine Art von Arbeit – Zeitdiagnostik, Kulturphilosophie, Trendanalyse, der Versuch zu sensitiven Selbstbeschreibungen moderner Gesellschaften zu kommen -, daß man auf diesem Feld sehr viel gewinnt, wenn man die amerikanischen Vulgärmythologien anschaut; viel mehr, als wenn man deutsche Problemfilme oder französische Stücke übers süße Leben auf dem Lande anschaut.
Manchmal denke ich, die Amerikaner sind im Moment ein so mythenproduzierendes, mythenspuckendes Volk wie die Griechen in ihrer großen veristischen Zeit, wie die Inder, als sie ihre großen mythopoetischen Schübe hatten. Und daß aus dem kollektiven Wahnsinn bei ihnen eben am deutlichsten etwas nach oben perlt – wenn man annimmt, daß der Wahnsinn unten ist und die Bilder aufsteigen. Vielleicht ist es auch anders, vielleicht kommen die Bilder von oben runter und der Wahnsinn ist oben. Außerordentlich finde ich unter diesem Aspekt auch BATMANS RÜCKKEHR und demnächst werde ich mir ALIEN 3 anschauen.
Welcher Mythos steckt denn nun im TERMINATOR?
Es sind zwei Mythenschichten, ein archaischer Paramythos und ein echter, religiöser Mythos. Die paramythische Schicht, die noch älter ist als der Mythos, das sind die Verfolgungen und die eigentlichen Actionszenen. Ich verbinde dies mit einer anthropologischen Deutung des Actionsfilms: Der Mensch ist das Tier, das Verfolgungen überlebt. Daher kommt auch die für hochkulturelle Menschen, für Bildungsbürger so bedrohliche Komponente bei diesem Film. Meine anthropologische These ist, der Mensch ist, was er ist, weil er auf der Flucht zurückschießen konnte, weil er Gegenangreifer hat werden können. Ich glaube, daß der Actionfilm einen Teil von dieser Dramatik re-inszeniert. Das ist nicht Teil der Geschichtsbücher, sondern Teil dieser Gewaltfolklore, die ja auch in den alten Mythen überlebt.
Die andere, echt mythische Schicht ist diese pseudobiblische Travestie, das ist die Apokalypse nach Johannes, verquickt mit einer gnostischen Neuredaktion des Evangeliums; der Held ist nicht Jesus von Nazareth, sondern heißt John Connor, und John ist ja auch ein wichtiger biblischer Name, der vierte Evangelist, das ist das gnostische Leitwort. So war es ja auch in Batmans Rückkehr, wo auch dieses Reservoir von ganz archaischen Geburtsphantasien angezapft wird. Das sind Höllenphantasien, uralte griechische, orientalische Unterweltkonzeptionen, die da wieder aufkommen; eine Rückverknüpfung von solchen Bildern mit der christlichen Heilsgeschichte und amerikanischer Politik.
Diese Bilder sind heute natürlich stärker, unmittelbarer. Filme wie BATMAN wären vor zehn Jahren noch unmöglich gewesen.
Das hängt mit einem Generationenwechsel zusammen. Man läßt sich das eher gefallen heute. Es ist eine Generation von Kinogängern da, die mehr auf ‚Totalverzauberung‘ setzt und die Irrealität des Genres von vornherein einräumt, und dann aber auch überschwemmt werden will. Gerade in Deutschland gibt es ja eine Tradition von solcher Überwältigungskunst, von Wagner her, einen ästhetischen Habitus; wo man sagt, das ist ja auch ein Teil der Kultur, daß sich das Subjekt im Zuschauerraum angesichts der dargestellten Gewalt, aber auch angesichts der überschwemmenden Kraft von Musik und Bild auflöst und erst auf dem Heimweg wieder sammelt. Daß man dem Individuum beweist, wie wenig Individuum es ist, daß es selber auch nur ein Bündel flirrender Moleküle ist, die relativ schnell destabilisiert werden können von einem mächtigen Bilderzauberer; und wenn alles gut geht, findet man sich auf dem Nachhauseweg wieder. Wenn nicht, sollte man eher in Richtung Nußbaumstraße gehen, in die Psychiatrie.

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