09. Juli 1992 | Süddeutsche Zeitung | Interview | Claude Chabrol

'Wir sind Fische im falschen Gewässer'

Ein Gespräch mit Claude Chabrol über Essen, Kritik und Verbrechen

Ein Kind, das ‚abwechselnd staunend, erschrocken oder lustvoll die merkwürdigen Verhaltensweisen seiner Tierchen betrachtet‘, hat Fassbinder einst in böser Absicht Chabrol genannt. In der Tat liegt im Blick des 62jährigen eine kindliche Vergnügtheit, die sich durch nichts aus der Ruhe bringen läßt. Das kann er sich bei seiner Produktivität auch gar nicht leisten: Über fünfzig Filme hat der ehemalige Kritiker der Cahiers du cinéma seit seinem Erstling LE BEAU SERGE aus dem Jahr 1958 gedreht. Mit der Simenon-Verfilmung BETTY, die jetzt in München läuft, hat wieder ganz zu seiner alten Form zurückgefunden. Mit Claude Chabrol sprach Michael Althen.

Was ist Ihre Leibspeise?
Das ist eine delikate Frage, weil das von der Saison abhängt. Was man das ganze Jahr über essen kann, ist Reh. Das ist das einzige, wofür ich mich auch selbst in die Küche stelle. Weil mich das ansonsten eher langweilt, ziehe ich letztlich Omlette mit Trüffeln vor.
Gibt es Kollegen, mit denen Sie diese Liebe zum Essen teilen?
Auf alle Fälle Bertrand Tavernier. Meine Frau behauptet immer, er gleiche einem prähistorischen Tier, das es irgendwie geschafft hat zu überleben. Dazu kommt, allerdings ohne dieselbe Raffinesse, Alain Corneau. Ansonsten sehe ich keine großen Esser im französischen Kino.
Sie haben Tavernier einmal vorgeworfen, er vertrete eine neue qualité français, also genau das, wogegen sie mit der Nouvelle Vague einst angegangen sind. Hat er Ihnen das übel genommen?
Nein, wir sind gute Freunde. Im übrigen kann ich mich nicht entsinnen, das gesagt zu haben. Obwohl ich es nicht ganz falsch finde. Es gibt da eine gewisse Tendenz.
Sind Sie selbst dagegen gefeit?
Ich kenne alle Tricks dieses Kinos und kann sie vermeiden. Allerdings gebe ich zu, daß man die MADAME BOVARY auf den ersten Blick auch dafür halten könnte. Aber ich kann Szene für Szene nachweisen, daß das nicht so ist. Ich habe allerdings einmal einen Film der QF gemacht, mit Absicht. Das war LA LIGNE DE DÉMARCATION.
Hat Ihnen Ihre Arbeit als Filmkritiker da geholfen, die Selbstgefälligkeit dieser Art von Kino zu vermeiden?
Ich neige nicht nur meines Temperaments wegen zu einer distanzierten Haltung, sondern auch von Natur aus: Ich bin nämlich extrem kurzsichtig. Ansonsten hat mir die Tätigkeit für die Cahiers du cinéma durchaus geholfen zu erkennen, wann etwas mißlungen ist. Andererseits gibt es einige Kollegen, die auch Kritiker waren und sich dennoch viel zu ernst nehmen.
Und lernen Sie aus den Kritiken Ihrer Nachfolger?
Da gibt es ein Problem: Wenn die einen Film mögen, den ich mißlungen finde, halte ich sie für Idioten. Und wenn sie etwas nicht mögen, was ich gelungen finde, halte ich sie auch für Idioten. Aber letztlich kann ich mich nicht beschweren, denn ich bin immer gut behandelt worden.
Gibt es auch Filme, bei denen sie sich ungerecht behandelt fühlen?
Ja, drei Stück: LES BONNES FEMMES (DIE UNBEFRIEDIGTEN, 1960), UNE PARTIE DE PLAISIR (EINE LUSTPARTIE, 1974) und LES FANTOMES DU CHAPELIER (DIE FANTOME DES HUTMACHERS, 1982). Und dann gibt es noch Filme, bei denen ich mir selbst noch nicht sicher bin, ob sie wirklich gelungen sind, wie zuletzt STILLE TAGE IN CLICHY, der es sicher nicht verdient hatte, daß sich die Kritk darüber lustig macht.
In LES BONNES FEMMES gibt es eine sehr lustige Szene mit einem Paar in einem Restaurant. Kurz darauf bringt der Mann die Frau um. Ist es diese Alltäglichkeit des Verbrechens, die Sie interessiert und die Sie bei Simenon schätzen?
Haben Sie sich mit Simenon je über echte Fälle unterhalten?
Ja, ihn verfolgte eine Erinnerung, die er auch in verscheidenen Romanen wieder aufgenommen hat. Er kannte auf der Klosterschule einen Jungen, der sich aufhängte. Und er war aber überzeugt, daß ihn ein bestimmter Mitschüler umgebracht hatte. Die Tatsache, daß er die Beteiligten kannte, war für ihn sehr wichtig. Er sagte sich: Wenn einer, den ich kenne, töten kann, dann kann jeder töten. Der Eindruck war so stark, daß er zu der Überzeugung kam, es existiere keine Moral, die uns daran hindert, wie die Tiere zu handeln. Das hat ihn sehr beschäftigt.
Sie auch?
Natürlich. Es ist schon sehr seltsam, daß das, was wir für sehr menschliches Verhalten halten, meistens rein animalische Verhaltensweisen sind. Wenn sich etwa eine Frau ins Wasser stürzt, um ihre Kinder zu retten, hat das weniger mit Menschlichkeit zu tun als mit tierischem Instinkt.
Sehen Sie sich also als Insektenforscher?
Falls Gott existiert, kann ich ihm wirklich keine Komplimente machen, denn die Menschheit ist eine Fehlplanung. Das menschliche Wesen hat nicht von Natur aus die Voraussetzungen mitbekommen, glücklich und zufrieden zu überleben. Es ist dabei immer auf eine Verkettung von Zufällen angewiesen. Wir sind wie Fische im falschen Wasser.
Zeigen Sie deshalb in BETTY immer im Hintergrund das Aquarium?
Ja, in dem Moment, da ich mich in BETTY verliebt habe, dachte ich mir, das ist eine perfekte Illustration der Situation.
Welches Gefühl hegen Sie als Regisseur für Ihre Figuren?
Ich bin immer sehr aufgeschlossen für all ihre Bemühungen, mit anderen zu kommunizieren, und ihre Versuche zu überleben. Das ist eine sehr menschliche Eigenart, weil Tiere diese Anstrengung nicht kennen und brauchen. Andererseits mache ich mich gern über mich selbst lustig, und ich sehe gar nicht ein, warum ich das nicht auch bei meinen Figuren machen sollte.
Sehen Sie eine Verbindung zwischen Betty und Ihrer letzten Heldin Emma Bovary?
Sicher. Betty ist die Rache der Madame Bovary. Sie muß sich nicht mehr umbringen, sondern schlägt zurück. Da hat sich für die Frauen seit dem letzten Jahrhundert einiges geändert. In England habe ich ein Buch gesehen, daß sich mit einer Frau befaßt, die Scharfschützin ist. Im nächsten Jahrhundert wird Emmas Rache also darin bestehen, daß sie ein Gewehr nimmt und auf alles schießt, was sich bewegt.
Es heißt immer, die Romane von Simenon seien ganz einfach zu verfilmen. Dafür gibt es aber eigentlich zu viele schlechte Verfilmungen. Ist das also ein Vorurteil?
Wenn man ihn liest, denkt man in der Tat, er ist fürs Kino wie gemacht. Und wenn man dann versucht, ihn zu adaptieren, stellt man fest, daß das nicht geht. Also ändert man alles, und es wird noch schrecklicher. Es gibt also eine Dialektik, wenn man seinen Romanen treu bleiben und sie respektieren will. Erstens: Es ist sehr leicht. Zweitens: Es ist unmöglich. Drittens: Man muß es trotzdem machen, weil es keinen anderen Weg gibt.
Sie haben sich nie gescheut, auch schlechte Filme zu machen. Und Sie haben auch nie einen Hehl daraus gemacht. Sind die amerikanischen Studio-Regisseure Ihre Vorbilder?
Ich bin nicht wie Richard Thorpe, der wirklich alles gemacht hat. Ganz so schlimm bin ich nun auch wieder nicht, denn ich habe auch Sachen abgelehnt. Aber es mußten schon sehr schlimme Sachen sein. Denn in dem, was ich gemacht habe, bin ich schon reichlich weit gegangen. Es ist nicht schlimm, solche Filme zu machen, man muß es nur wissen. Außerdem muß man ja wie jeder Mensch seine Steuern zahlen. Viele Filme drehen und gute Filme drehen muß zudem kein Widerspruch sein: John Ford hat allein im Jahr 1939 drei Meisterwerke gemacht: STAGECOACH, YOUNG MR: LINCOLN und DRUMS ALONG THE MOHAWK. Es ist also möglich.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


dreizehn − 4 =