25. Mai 2001 | Süddeutsche Zeitung | Fussball, Glosse, Leben | Fussball

Helden!

Fußball wird amerikanisch

Ein Spiel dauert bekanntlich 94 Minuten oder so – wenn es sein muss, auch mal 168Minuten, einschließlich Verlängerung, Elfmeterschießen und Werbepausen. Und gerade in dieser Länge lag immer der wesentliche Unterschied zu amerikanischen Ballsportarten, bei denen die Bruttospielzeit überhaupt kein Thema ist, weil es netto nur auf einzelne Momente ankommt. Beim American Football wird die Uhr angehalten, wenn das Ei ruht, und beim Baseball spielt die Uhr gleich überhaupt keine Rolle, was auf den Zuschauerrängen zu picknickartigen Verhältnissen führen soll. Beim Fußball hingegen tickt die Uhr unbarmherzig, was die Leute vor dem Fernseher – speziell bei Begegnungen wie am Mittwochabend – dazu bringt, irgendwann vor dem Fernseher zu stehen oder in gebetsähnlicher Haltung davor zu knien.

Die Amerikaner haben in ihrer unnachahmlich effektiven Art ihre Sportarten also aufs Wesentliche reduziert. Beim Baseball gibt es Werfer und Schläger – aus diesem Duell entsteht gegebenenfalls ein kurzes Gerenne auf dem Feld, und dann ist erstmal wieder Pause bis zum nächsten Wurf. Beim Football stehen sich Angriffs- und Verteidigungsreihen gegenüber, dann gibt es ein kurzes, unübersichtliches Gerenne und schließlich eine Pause, bis sich die Reihen für den nächsten Spielzug neu formiert haben. Auf diese Weise lassen sich diese Sportarten in appetitliche Portionen zerteilen und deshalb auch fürs Kino oder die Literatur besser aufbereiten. Der Fußball hingegen, so hieß es immer, beziehe seine Spannung aus der Dauer, die wiederum nur durch den Fußball selbst darstellbar sei. Damit ist es nun jedoch vorbei.

Natürlich gab es auch beim Fußball stets jene Momente, auf die sich die Dramatik eines ganzen Spieles reduzieren ließ – man denke nur an das Wembley-Tor 1966 oder Katsche Schwarzenbecks strammen Ausgleichsschuss in der Verlängerung des 74er-Endspiels gegen Atletico Madrid, das Bayern daraufhin in der Wiederholung gewinnen konnte. Nicht zu reden von den traumatischen Minuten von Barcelona, die auch der jetzige Sieg nicht aus der Erinnerung wird löschen können. Aber jenseits solcher Ausnahmen hieß die eiserne Regel, ein Spiel dauere 90 Minuten, welche diese Sportart auch brauche, um ihre ganze Schönheit und Spannung ausbreiten zu können. Eine zutiefst unamerikanische Haltung.

Als Adam Gopnik für das Magazin New Yorker die Fußballweltmeisterschaft in Frankreich beobachtete, ist er schier daran verzweifelt, wie selten sich dramatische Situationen ergäben und wie oft Frei- oder gar Strafstoßpfiffe falsch seien, vor allem angesichts der Tatsache, dass sie häufig das Spiel entscheiden. Wenn man sich überlegt, dass Bayern leicht durch eine idiotische Elfmeterentscheidung in der zweiten Minute hätte verlieren können, dann kann man dem Mann nur beipflichten. Die Widerstände gegen den Fernsehentscheid werden auch dadurch nicht glaubwürdiger, dass Funktionäre hartnäckig „Tatsachenentscheidung” nennen, was in Wahrheit genau das Gegenteil ist: Die Entscheidung basiert gerade nicht auf Tatsachen, sondern sie spielt sich selbst zu einer auf.

Ansonsten können aber die Amerikaner ganz beruhigt sein, denn der Fußball arbeitet kräftig daran, sein Spielgeschehen nach Möglichkeit auch auf so genannte Standardsituationen zu reduzieren, auf das Duell Schütze gegen Torhüter, bei dem fallweise eine Mauer dazukommt. Entschied sich die deutsche Meisterschaft am Samstag noch durch einen einzigen Freistoß, so wurde nun der Sieger der Champions League durch insgesamt 17 Elfmeterduelle bestimmt. Das ist fast schon wie beim Baseball. Und je heftiger hinterher der Mannschaftsgeist beschworen wird, desto sicherer waren es einzelne Helden, die sich hervorgetan haben. Oliver Kahn, der sich bis dahin noch nicht als gewiefter Elfmetertöter präsentiert hatte, schritt mit einer Entschlossenheit ins Tor, dass einem auch bei wiederholtem Rückstand nicht bange werden musste. Und folgerichtig konzentrierte sich das Fernsehen auch ganz auf seinen einsamen Siegesspurt, auf jene zu Jubel erstarrte Heldenpose, die der Stoff ist, aus dem sich Romane speisen. Jetzt, da ein Fußballspiel nur noch Sekunden dauert, können sie endlich geschrieben werden.

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