23. November 1993 | Süddeutsche Zeitung | Essay | New York als Filmkulisse

Das verlorene Wochenende

Wo New York fast so aussieht wie im Kino

Nicht alles, was wie New York aussieht, ist auch New York. Zumindest im Film muß häufig Toronto als Double herhalten, weil dort das Drehen billiger ist. Andererseits mußte New York durchaus auch für andere Städte herhalten. 1960 etwa drehte Elia Kazan FIEBER IM BLUT, eine Geschichte aus dem Kansas der späten zwanziger Jahre. Weil aber der Vater des Regisseurs schwer krank war, verlegte man die Dreharbeiten kurzerhand nach Travis auf Staten Island. Wenn man im Kino also sieht, wie sich Warren Beatty und Natalie Wood vor dem Haus ihrer Eltern ewige Liebe schwören, dann ist das in Wirklichkeit 4144 Victory Boulevard gewesen. Und wenn man die Phantasie bemüht, dann sieht es dort noch heute aus wie in Kansas.

Ganz gleich in welcher Rolle, New York ist immer eine der Hauptstädte des Kinos. Man muß gar nicht dort gewesen sein, um sich in seinen Straßen auszukennen. Man war zum FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY und BARFUSS IM PARK, war mit dem TAXI DRIVER und dem STADTNEUROTIKER unterwegs und hat Little Italy und die Bronx, die Freiheitsstatue und den Central Park gesehen. Da fragt man sich doch, warum man überhaupt ein Flugticket braucht, wenn schon eine Eintrittskarte fürs Kino genügt?

Es gibt in der Tat ein, zwei Gründe, dort hinzufliegen – und sei es nur, um überall dorthin zu gehen, wo man im Kino schon längst war. Zum Beispiel nach Coney Island, was mit der Subway zwar eine knappe Stunde dauert, aber eine großartige Abwechslung zu Manhattan darstellt. Man kommt in Brighton Beach an, wo die Hauptstraße von den Gleisen der Subway überdacht ist. Und man könnte dort lange der Erinnerung an die berühmte Verfolgungsjagd in FRENCH CONNECTION nachhängen, wenn die Aufmerksamkeit nicht sofort von den kyrillischen Buchstaben gefangen würde, die dort die Läden zieren. Denn Brighton Beach ist etwa so russisch wie Chinatown chinesisch ist. Und es ist auch, heißt es übrigens, fest in den Händen der russischen Mafia.

Die Kioske am Straßenrand führen ausschließlich russische Zeitungen, und in den Cafés gibt es Borscht statt Burger. Wenn man dann zum Boardwalk am Meer hinuntergeht, wo die kleine Bette Midler in Beaches steppte oder Neil Simon seine Brighton Beach Memoires verfaßte, dann ist man vollends in einer anderen Welt, Lichtjahre entfernt von der Hitze und Hektik der Metropole. In der Ferne taucht bereits der Vergnügungspark von Coney Island auf, wo der kleine Stadtneurotiker Alvy Singer seine Kindheit verbrachte.

In Woody Allens Film sieht man den kleinen Alvy, wie er versucht, die Suppe zu löffeln, während die Achterbahn über das Haus donnert. Tatsächlich existiert die alte Achterbahn ebenso noch wie der Bretterverschlag, der unter einer ihrer Kurven angeblich Alvys Elternhaus bildete. Wie ein gestrandeter Walfisch liegt die Konstruktion da, überwuchert von Unkraut und Rost. Die alten Lettern rufen noch THUNDERBOLT, während nebenan längst neue Attraktionen ihren Platz gefunden haben, darunter die neue Achterbahn CYCLONE.

In Amerika ist selbst die Architektur eine Wegwerfkultur. Der Abriß hat sich nicht gelohnt, also hat man einfach ein paar Meter weiter neu gebaut und das alte Ding stehenlassen. Neben diesem unheimlichen Industriedenkmal ist an einer Bretterwand noch eine Werbung für das Steeplechase Race zu sehen, das mechanische Pferderennen, das 1928 in Harold Lloyds Film Speedy eine tragende Rolle spielte. Doch das ist genauso wie die Flugzeuge des Luna Park längst abgerissen worden. Was aber noch steht und Coney Island als Wahrzeichen dient, ist jener Antennenpilz aus Draht, der neben dem Thunderbolt in den Himmel ragt. Und kaum einer weiß, daß diese wunderschöne, scheinbar sinnlose Konstruktion einst als Übungsturm für Fallschirmspringer errichtet worden ist.

Natürlich kann man allein mit Woody Allen ganze Tage in New York zubringen. Manhattan deckt schon einige der schönsten Orte ab, und Sam Waterston macht in HANNAH UND IHRE SCHWESTERN für letztere eine Führung zu den schönsten Wolkenkratzern der Stadt. Und wenn man dem Hudson River auf der Landseite nach Norden folgt, kommt man nach Piermont, wo PURPLE ROSE OF CAIRO gedreht wurde. Das Jewel Theatre, in dem sich Mia Farrow in die Leinwand hineinträumt, existierte allerdings schon zur Zeit der Dreharbeiten nicht mehr.

Eine kinematographische Reise durch New York schwankt stets zwischen dem Offensichtlichen und dem Unscheinbaren. Das Empire State Building, das von KING KONG bis Warhol und von DIE GROSSE LIEBE IHRES LEBENS bis SCHLAFLOS IN SEATTLE Hauptrollen spielte, kennt natürlich jeder, aber kaum einer weiß, daß Ecke 52. und Lexington einst das Trans Lux Theatre stand, vor dem sich Marylin ihr Kleid durchpusten ließ. Das Kino gibt es nicht mehr, aber der Luftschacht existiert noch: ‚Isn’t it delicious?!‘

Die Wohnung, wo Audrey Hepburn in FRÜHSTÜCK BEI TIFFANY zur Gitarre Moon River gesungen hat, steht 171 East 71., das Alwyn Court Building, wo Mia Farrow ROSEMARYS BABY zur Welt brachte, findet sich Ecke Seventh Avenue und 58., und die Kneipe, in der Ray Milland sein VERLORENES WOCHENENDE trinkend zubrachte, steht 913 Third Avenue und heißt P.J. Clarke’s. Für all diese Wanderungen braucht man entweder ein gutes Gedächtnis oder einen guten Führer wie Richard Allemans „The Movie Lover’s Guide to New York“ (Perennial Library, 14.95 Dollar). Dann hält New York auch in Wirklichkeit, was New York im Kino verspricht.

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