23. August 2000 | Süddeutsche Zeitung | Essay, Leben | Die „Kursk”

Unter Null

Die „Kursk” in der Tiefe 
unseres Unverständnisses

118 Menschen sind gerade qualvoll in einem U-Boot ertrunken, 114 Menschen unlängst beim Absturz einer Concorde ums Leben gekommen – und das einzige, woran sich unser Entsetzen im ersten Moment einhakt, sind diese Zahlen. Als besäßen sie eine Bedeutung über die bloße Quantifizierung hinaus. Und fast hat man den Eindruck, dass die Ziffern 114 und 118 auf Wochen hinaus infiziert sind von der Katastrophe. Wo immer sie auftauchen, wird man sie mit den Tragödien der letzten Wochen in Verbindung bringen. Was die Kursk und die Concorde angeht, handelt es sich bei der Anzahl der Opfer um Primzahlen: der Schrecken ist nicht teilbar, das Mitgefühl lässt sich nicht dividieren, die Ereignisse lassen sich nicht in einzelne Schicksale zerlegen. In den Sekunden des Unglücks verschmelzen die Opfer zu einer Masse, und keine Vorstellungskraft reicht aus, den Moment selbst zu durchdringen.

Der blinde Fleck

Sinnigerweise heißt die Sendung der ARD, die sich mit solchen Themen befasst, Brennpunkt. Bemerkenswert hilflose Moderatoren haben sich vergangene Woche dort abgemüht, die katastrophale Nachrichtenlage zu durchdringen. Aber die Verschleierungstaktik der Russen hat lediglich jenen Effekt verstärkt, dass vor solchen Katastrophen alle Erklärungsversuche versagen, dass daran alle Vermutungen über den Hergang abprallen, alle Rationalisierungen verpuffen.
Der Schriftsteller Don DeLillo hat beim Blick auf die Ermordung John F. Kennedys mal festgestellt, dass all die Fotos, Berichte, Untersuchungen, Aussagen nicht gereicht hätten, den Vorgang zu erhellen und das Geheimnis zu lüften. Als sei das Ereignis eine Art blinder Fleck, vor dem unser Sehvermögen versagt, ein Leerstelle, in der die Erzählung einen Moment lang aussetzt, ein schwarzes Loch, das alles Rätselraten und Herumphantasieren einfach verschluckt.
In 108 Meter Tiefe liegt die Kursk, und das scheint – zumal das U-Boot selbst um die Hälfte länger ist – gar nicht so tief. Zumindest reicht unser Vorstellungsvermögen aus, Vergleiche zu ziehen – zur Höhe der Frauentürme etwa. Und doch schien es eine Woche lang unmöglich, diese 108 Meter zu überwinden. Als befände sich die Kursk in einer anderen Dimension, in der sie dem Zugriff der Wirklichkeit entzogen ist, in einem Vakuum, in das die Luft der Gegenwart nicht hineinreicht. Dieselbe Art von Hilflosigkeit erlebt man auch bei Gruben-Unglücken immer wieder. In beiden Fällen sind die Opfer so nah und doch so unerreichbar fern.

Eine andere Zahl spukte dieser Tage durch die Köpfe, und womöglich wurde sie deshalb so gebetsmühlenhaft wiederholt, weil sie etwas bezifferte, was sich noch gar nicht fassen lässt: die Zukunft nämlich. 98,8 Milliarden Mark wurden bei der Versteigerung der Mobilfunk-Lizenzen gezahlt, und allein schon die Tatsache, dass es etwa 50 Menschenleben dauern würde, bis in diese Höhe zu zählen (vorausgesetzt, man hielte dabei den Sekundentakt ein), verwies diese Summe aller Mathematik zum Trotz ins Reich der imaginären Zahlen. In jedem Fall handelt es sich dabei um eine imaginäre Welt, in der sich alles in Datenpakete zerlegen lässt. Und gerade das Beschwören dieser digitalen Zukunft stand in so krassem Gegensatz zu dem zutiefst analogen Desaster der Kursk – und ist doch beides gleichermaßen ungreifbar wie unbegreiflich.

Der böse Mond

In Michael Crichtons Roman „Enthüllung” wird ein elektronischer Konzern geschildert, in dem eine Designabteilung damit beschäftigt ist, Geräte zu entwerfen, welche technisch noch gar nicht realisierbar sind. Unbeirrt von der technischen Machbarkeit werden dort Formen ersonnen, die erst in der Zukunft auch mit Inhalt ausgefüllt werden können. Verwirrenderweise scheint es sich mit den UMTS-Frequenzen eher andersherum zu verhalten: Noch bevor jemand genau sagen kann, wofür man sie wirklich braucht, werden astronomische Hypotheken auf diese Zukunft aufgenommen. Und doch kann man darauf wetten, dass die Designs dafür bereits existieren. Und das Tollste ist, dass das Ende dieser Zukunft, die noch gar nicht begonnen hat, schon wieder abzusehen ist. Weil der bisherige GMS-Modus bei Beginn des UMTS-Zeitalters etwa 15 Jahre gehalten hat, glaubt man bereits prophezeien zu können, dass UMTS ebenfalls nicht länger bestehen wird, ehe es wiederum von einer neuen Technik abgelöst wird.

Bei so viel Zukunft und luftiger Spekulation scheint die Kursk in eine Vergangenheit gesunken zu sein, die wir längst hinter uns gelassen geglaubt haben. Eine verrottete Marine, marode Boote, eine Informationspolitik wie im Kalten Krieg und ein Präsident mit einem kalten Herzen. Wenn schon die Hardware solche Katastrophen verursacht, was mag erst passieren, wenn dort die Software abstürzt?

Was das angeht, haben die Russen sicher kein Monopol auf systembedingte Unfälle: Schon 1960 löste die Kommandozentrale der nordamerikanische Luftverteidigung die höchste Alarmstufe aus – ein Computer des Raketenfrühwarnsystems hatte den aufgehenden Mond über Grönland mit einer sowjetischen Atomrakete verwechselt. 1984 musste in Wyoming ein Panzer auf den Deckel eines Lenkwaffensilos gefahren werden, weil sich darunter eine Rakete selbständig zu machen drohte. Das Schicksal ist vielleicht blind, aber Computer sind dumm. Wenn es nicht so traurig wäre, könnte man sagen: Das kann noch heiter werden.
MICHAEL ALTHEN

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