24. Juli 1997 | Süddeutsche Zeitung | Essay, Leben | Kino und Fahrradfahren

Die Speichen und die Ketten des Erzählens

Der Rahmen hält die Spannung nicht immer aus: Wenn das Kino aufs Fahrrad steigt

Ullrich ist in gelb, Deutschland im Fieber – und was sagt das Kino dazu? Mit Sportarten hat es sich immer schon schwer getan – und doch der Versuchung, von deren Spannung zu profitieren, nie widerstehen können. Ob Fußball oder Baseball, Autorennen oder Skifahren, Ringen, Surfen oder Synchronschwimmen, Tennis oder Ringen – überwiegend haben sich die Regisseure die Zähne ausgebissen. Allein Boxen bildet da eine Ausnahme. Das, was im Fernsehen die Bilder zusammenschweißt, scheint sie im Film auseinanderzutreiben. Übertragungen leben von einer Übereinkunft mit der Wirklichkeit; im Kino funktioniert das selten. Schweiß und Tränen wirken leicht falsch. Roland Barthes sagt: „In Wirklichkeit kennt die Dynamik der Tour nur vier Bewegungen: Führen, Verfolgen, Ausreißen, Eingehen. ” Das Kino kennt nur zwei Bewegungen: Motion und Emotion.

Die Übertragungen von der Tour de France dauern länger als die meisten Filme und sind doch mindestens so spannend. Wenn der Einzelne einen Ausreißversuch startet, wenn das Peloton ihn jagt, wenn sich die Fahrer am Berg belauern, dann lebt das auch von der Dauer des realen Vorgangs und der Freiheit, sich die Favoriten selbst aussuchen zu können. Das Kino hält von dieser Freiheit nichts: Dort stehen Sieger und Verlierer von vornherein fest. Hintergrund, Atmosphäre, Schicksale dienen im Film immer einem Zweck; im Fernsehen sind sie ein Luxus, den sich der Kenner leistet. Allerdings versuchen die Privatsender seit Jahren mit fragwürdigem Erfolg, dem Sport mit den Mitteln des Kinos beizukommen. Was einst auch von der Sprödheit der Darbietung lebte, wird nun zu immer neuen Höhepunkten überzeichnet.

Wenn sich das Kino aufs Rad geschwungen hat, gab es meistens Pannen. Kevin Costner spielte in John Badhams DIE SIEGER – AMERICAN FLYERS, in dem auch Eddy Merckx einen kurzen Auftritt hat, einen Rennfahrer, der seinen Bruder zu den Coors Classics bringen will. Und Peter Yates hat 1979 in BREAKING AWAY – VIER IRRE TYPEN gezeigt, wie sich eine Kleinstadtgang zu einem Team zusammenrauft. Der Erfolg des Films zog eine gleichnamige Fernsehserie nach sich, in der Shawn Cassidy die Hauptrolle spielte. Die Drehbücher zu beiden Spielfilmen stammen übrigens von Steve Tesich, einem Exil-Jugoslawen, der offenbar ein großes Herz für den Radsport hat. In jedem Fall folgten diese Filme der alten amerikanischen Regel: The winner takes it all. Natürlich geht es immer darum, wie das Individuum durch Entschlossenheit alle Hindernisse überwindet. Wie in DREAM RIDER – OHNE FREMDE HILFE (USA 1992), wo ein Footballer sein Bein verliert und dann als Einbeiniger auf dem Rad Erfolge feiert.

Wer sich anderswo mit dem Thema beschäftigt hat, nahm das Radfahren eher als Parabel für die Zustände im Lande, zeigte den Sport als Spiegelbild gesellschaftlicher Prozesse. In DER FAHRRADFAHRER (BICYCLERAN) erzählt der Iraner Mohssen Makhmalbaf von einem jungen Mann, der an einem siebentägigen Radmarathon teilnimmt, um die Klinikkosten für seine schwerkranke Frau aufbringen zu können. In Peter Lilienthals Skarmeta-Verfilmung DER RADFAHRER VON SAN CRISTOBAL(BRD 1987) kämpft ein junger Chilene bei der Tour de Chile ebenfalls, um mit der Prämie seiner kranken Mutter helfen zu können. Aber Politik und Werbung haben den Sport hier längst korrumpiert. Ähnlich gemeint, aber als Propaganda fürs System gedacht war SEIN GROSSER SIEG (DDR 1952), in dem ein Steher vom korrumpierten Profisport im Westen enttäuscht in den Osten wechselt, wo der Sport noch sauber ist.

Die Probleme innerhalb der Mannschaft sind mitunter Gegenstand der Filme so wie der Kampf zwischen Ullrich und Bjarne Riis um die Position des Team-Kapitäns bei der Telekom. Besonders die Rumänen scheint das zu beschäftigen: In ORIENTIERUNGSLAUF (CONCURS) zeigte Dan Pita 1982, wie ein Neuling die schwelenden Konflikte in einem Rad-Team zum Ausbruch bringt; und in DIE RADFAHRER KOMMEN (VIN CiCLISTII) wurde 1968 davon erzählt, wie eine Radsportmannschaft in den Karpaten auf eine Truppe junger Postangestellter trifft und mit dem Arbeitsalltag konfrontiert wird.

Wo das Radfahren im Spielfilm nur ein kleines Rädchen in einer großen Maschinerie darstellt, da konnte sich der Dokumentarfilm ganz aufs Eigentliche konzentrieren. Louis Malle folgte 1962 der Tour de France mit zwei Kameramännern und ließ das Material drei Jahre lang ruhen, bis er POUR UN MAILLOT JAUNE von Claude Lelouch sah, dessen Ästhetisierung ihn so verärgerte, daß er sich an den Schneidetisch setzte und den 18minütigen Kurzfilm VIVE LE TOUR! erstellte: „Mir ging es darum, die Härte und Grausamkeit der Tour zu zeigen, die schrecklichen Anstrengungen, die sich bergauf auf den Gesichtern abzeichnet, die Stürze, die Probleme mit Aufputschmitteln, die völlig tabu sind. ” In HERZFLIMMERN hat er dann eine autobiographische Szene eingeflochten, in welcher der junge Held ins Hotel heimkehrt, am Radio der Tour zuhört und dabei einschläft.

Es gibt noch andere Dokumentarfilme wie ÜBER DIE GRENZEN (DDR 1989) von Rainer Ackermann über Sieger und Verlierer der Friedensfahrt von Berlin nach Prag; FAUSTO COPPI – EINE ITALIENISCHE RADSPOTLEGENDE(F 1996) von Jean-Christophe Rosí, in dem Coppis Aufsteig eine Parabel auf den Aufschwung Italiens nach dem Krieg darstellt; DIE HÖLLE VON FLANDERN (BRD 1996) von Bernd Mosblech, eine Doku über „De Muur”, eine berüchtigte 20-Porzent-Steigung bei der Flandernrundfahrt; PARPAILLON über einen der schwierigsten Pässe, in dem sich Luc Moullet über die Radsportbegeisterung seiner Landsleute mokiert; und EIN SONNTAG IN DER HÖLLE von Jörgen Leth, der 1976 einen Monat lang die Strecke Paris-Roubaix auf dem Fahrrad erkundete, ehe er über dieses Kopfsteinpflaster-Rennen seine grandiose Dokumentation drehte.

Die schönsten Filme kommen natürlich aus Frankreich. In Das Geheimnis der fünf roten Tulpen von Jean Stelli geht es um drei Morde im Verlauf der Tour de France 1949; und derselbe Regisseur hat auch in Ohne Rücksicht auf Verluste (1939) eine Geschichte um die Tour gesponnen. In Jean Beckers Ein mörderischer Sommer geht es nur am Rande ums Radfahren, aber nirgends wird die landesweite Begeisterung besser spürbar als in dieser Provinzstudie, wo Isabelle Adjanis Bruder nur von einem sonntäglichen Amateur-Rennen zum nächsten denkt.

Und wer ist der schnellste von allen? Natürlich Jacques Tati, der in JOU DE FETE als Postbote auf dem Fahrrad einen solchen Elan entwickelt, daß er spielend alle Radrenn-Profis abhängt. Mit ihm hätte auch Jan Ullrich seine Schwierigkeiten.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


dreizehn + sechs =