18. Dezember 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Essay | DVD

Das Kino ist eine Scheibe

Mit DVD erfüllt sich der Traum von der eigenen Filmbibliothek

Seit sechs Jahren gibt es nun DVD-Spieler, und daraus wurde die schnellste Erfolgsgeschichte, die die Unterhaltungselektronik je erlebt hat. Die „New York Times“ rechnete unlängst vor, daß es mittlerweile 36 000 Titel auf DVD gebe, wovon die Hälfte in den letzten beiden Jahren erschienen ist. Bei uns gibt es nicht halb so viele Filme, aber der Markt wächst ähnlich schnell – und die Preise fallen rapide. Wer ein bißchen warten kann, kriegt die meisten Filme für unter fünfzehn und viele nun auch schon für unter zehn Euro – billiger waren die Kaufvideos vor Einführung der DVD auch nicht. Das ist eine Entwicklung, die man angesichts der Tatsache, daß CDs bis heute teurer sind, als es Schallplatten je waren, in den kühnsten Träumen nicht erwartet hat – und schon gar nicht in so kurzer Zeit.

Natürlich läßt der deutsche Markt immer noch viel zu wünschen übrig, der amerikanische auf anderem Niveau allerdings auch. Der Artikel in der „New York Times“ hatte denn auch den Titel „Most Wanted“, um zu beklagen, daß es weder Filme von den Marx Brothers noch von Fred Astaire und Ginger Rogers gebe – und noch nicht einmal BRINGING UP BABY. Zumindest was Howard Hawks‘ Komödie angeht, dürfen wir uns hierzulande freuen: LEOPARDEN KÜSST MAN NICHT ist bei Arthaus erschienen, in unbeständiger Bildqualität zwar, aber zweisprachig und sogar mit Hans-Christoph Blumenbergs Dokumentation über Hawks versehen.

Zu den Sonderbarkeiten des Geschäfts zählt, daß es im Ausland mitunter Filme gibt, auf denen deutsche Untertitel oder sogar die Synchronfassung zu haben sind, die aber bei uns (noch?) nicht erhältlich sind. Eine der Freuden des Internets besteht jedoch darin, daß es die Sprachbarrieren und Grenzen des Marktes aufgehoben hat und daß so der Filmfan genauso leicht DVDs aus Amerika und Asien, aus Frankreich und Italien bestellen kann. Natürlich kommt dabei noch Porto dazu sowie der Umstand, daß anderswo das Preisniveau noch höher ist – und besonders in Frankreich hält man nicht viel von Untertiteln und von anderen Sprachen schon gar nicht. Aber wenigstens kann man auf die Weise Filme finden, die bei uns nie ins Kino kamen und deren Veröffentlichung als DVD hierzulande genauso ungewiß ist.

Unter dem Titel „Der unsichtbare Film“ gibt es dazu auf Ekkehard Knörers Website jump-cut.de eine sehr verdienstvolle Liste dieser blinden Flecken des deutschen Verleihgeschäfts. Zu den Filmen, nach denen man sich unter anderen Umständen im Kino alle Finger abschlecken würde und die man nun also mit Aufpreis als DVD im Internet finden kann, gehören zum Beispiel, um nur die prominentesten zu nennen, David Cronenbergs SPIDER mit Ralph Fiennes, Todd Haynes‘ SAFE mit Julianne Moore, Richard Linklaters TAPE mit Ethan Hawke, Woody Allens HOLLYWOOD ENDING, Olivier Assayas‘ DEMONLOVER, Jean-Luc Godards ELOGE DE L’AMOUR, Mike Figgis‘ TIMECODE und HOTEL, Claire Denis‘ TROUBLE EVERY DAY, Peter Bogdanovichs THE CAT’s MEOW, John Sayles‘ SUNSHINE STATE, Alan Rudolphs THE SECRET LIVES OF DENTISTS, Michael Winterbottoms „24 HOUR PARTY PEOPLE, Hou Hsiao-hsiens MILLENIUM MAMBO, Hal Hartleys NO SUCH THING, Gus van Sants GERRY, Bernardo Bertoluccis BESIEGED . . . Man könnte ewig weitermachen – oder einfach bestellen. Man kann das für eine Bankrotterklärung des Kinos als Abspielstätte halten oder aber sich daran freuen, daß die DVD dem blinden Betrieb die Augen öffnet.

Vielleicht sollte man aber auch, weil Weihnachten naht, zur Versöhnung ein paar wirklich sehenswerte Spezial- und Sammeleditionen nennen, die man auch bei uns kaufen kann und auf die wir bei späterer Gelegenheit zurückkommen werden. Eine Sensation sind sicher die beiden Chaplin-Kassetten mit insgesamt sieben Spielfilmen, einer Dokumentation, uferlosem Material und vor allem Audiokommentaren von Regisseuren wie Bertolucci, Chabrol, Kusturica, Forman oder den Gebrüdern Dardenne. Nicht weniger schön gemacht und ebenfalls bei Warner erschienen sind die Spezialeditionen zu den beiden Michael-Curtiz-Filmen CASABLANCA und DIE ABENTEUER DES ROBIN HOOD. Ähnlich reichhaltig ist die bei Universum veröffentlichte sogenannte Gold Edition mit sechs DVDs zu Quentin Tarantinos Filmen von RESERVOIR DOGS bis JACKIE BROWN. Und wer es etwas leichter mag, für den gibt es als Achterbox von Koch Media die komplette Fernsehserie DIE ZWEI mit Roger Moore und Tony Curtis, wo man sich auch im englischen Original überzeugen kann, daß die deutsche Synchronisation der PERSUADERS ausnahmsweise die halbe Miete war. Dazu gibt es ein ausführliches Interview mit deren gutem Geist Rainer Brandt. Aber was das angeht, schafft das Medium DVD mit seinen Originalfassungen und Untertiteln hoffentlich irgendwann die Geisteraustreibung.

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