24. Dezember 1994 | Süddeutsche Zeitung | Essay | Beobachtungen in Belfast

Trinken für den Frieden

Waffenstillstand: Beobachtungen in Belfast

Wer von Irland redet, muß vom Alkohol reden. Darum kommt man nicht einmal dann herum, wenn es um so etwas Ernstes wie den Waffenstillstand geht. Anfang des Monats also haben die Pubs der Provinz Ulster etwas veranstaltet, was unter der schönen Bezeichnung ‚£1-a-pint toast to peace‘ über die Bühne ging. Kein Drink kostete an jenem Mittwoch mehr als ein Pfund. Mit diesem Angebot, ließ die Federation of the Retail Licence Trade wissen, wolle man Ulsters Rückkehr zur Normalität feiern und sich bei all jenen bedanken, die den Pubs in den Schreckensjahren treu geblieben sind.

Ob in dieser Zeit wirklich weniger getrunken worden ist, darf gerade in diesem Landstrich bezweifelt werden. Aber Tatsache ist, daß in den ersten Jahren des Terrors unzählige Pubs schließen mußten, weil sie durch ihre zumeist eindeutig katholische oder protestantische Klientel ein leichtes Ziel für Anschläge waren. Die verängstigten Kunden blieben also zu Hause oder flüchteten in die Clubs, die mit ihren strikten Zulassungsregeln für Mitglieder überall im Lande boomten. Mit der Zeit gewöhnte man sich jedoch an die allgegenwärtige Gefahr, und die Pubs rüsteten auf: vergitterte Fenster, Videokameras über dem Eingang und Alarmvorrichtungen hinter der Theke. Jetzt jedoch, formuliert es die Vorsitzende der Federation Anne Diver etwas dramatisch, könne man auch im Pub ’seinen Drink wieder ohne Todesangst genießen‘.

Cross your fingers

Seit Oktober ist also alles anders. Durch die Gewaltverzichtserklärung der IRA herrscht zum erstenmal seit 1969 so etwas wie Frieden im Land. Wer dem Frieden nicht traut, nennt es ceasefire, Waffenstillstand. Aber die Hoffnungen, die sich damit verbinden, sind dieselben. Und die Skepsis offenbar auch. Denn keiner redet hier über den Frieden, ohne gleichzeitig die Finger zu kreuzen. Hoffen wir, daß es auch so bleibt – Cross your fingers.
Optimismus und Begeisterung findet man deshalb selten, die Leute reagieren eher zurückhaltend. 25 Jahre sind eine verdammt lange Zeit. Da fängt man nicht plötzlich an zu glauben, wovon man vorher bestenfalls nur träumen konnte. 25 Jahre, das sind eine Menge enttäuschter Hoffnungen, die vielleicht auch eine gewisse Vorsicht des Herzens zur Folge haben, die die Leute davor bewahrt, allzuviel Gefühle in die neue Lage zu investieren. ‚It’s about time‘, sagt der Barkeeper einfach nur. ‚Wurde auch Zeit.‘ ‚It’s about time‘, sagt auch der Taxifahrer. Erleichterung liegt darin, und auch Müdigkeit.

Der Frieden lebt nicht von Hoffnungen allein, er braucht vor allem Gesten, die sichtbar machen, was noch keiner so recht wahr haben will. Das fing schon kurz nach dem Waffenstillstand damit an, daß die britischen Patrouillen Kampfanzüge und Helme ablegten und in Uniformen und Barett ihre Runden drehten. Und als nächstes kamen die grauen Panzerfahrzeuge dran – nicht nur ihrer Form wegen auch pigs, Schweine, genannt -, die auf den Straßen immer noch allgegenwärtig sind und nun aber probeweise umgestrichen werden, mal blau-weiß, mal dunkelgrün und weiß.

Das klingt nach müßigen Farbspielereien, gilt aber als gewaltiger Schritt in einem Land, in dem die Anwesenheit der Besatzer als um so provozierender empfunden wurde, je martialischer sie auftraten. Das sind also vielleicht nur kleine Gesten, aber die hat der Frieden um so nötiger, als die Zeichen des Krieges immer noch unübersehbar sind.

Die sogenannte Friedensmauer zwischen Falls Road und Shankill Road, den beiden berüchtigten, parallel verlaufenden Hauptschlagadern der Republikaner und Unionisten im Westen der Stadt, erinnert immer noch an die Berliner Mauer in ihrer trostlosesten Zeit, und es sieht nicht so aus, als würde irgend jemand Anstalten machen, sie abzurüsten. Aber das Bollwerk wirkt noch geradezu zivil, verglichen mit jenem Hochhaus, das neben der Einfahrt zur katholischen Falls Road im Ödland thront. In der oberen Etage, heißt es, ist eine englische Militärbasis eingerichtet, die sozusagen aufs Feindesland hinabblickt und mit Kameras und sonst was alle Bewegungen dort kontrolliert. Mit dem Wald von Antennen und Masten auf dem Dach wirkt das Gebäude wie ein bösartiges Insekt, das über der Straße wacht. Wer an diesem Ungetüm täglich vorbei muß, wird wissen, wie wichtig die Gesten des Friedens sind.

Kaum zu ermessen ist auch, wie wichtig es war, das Belfast Festival at Queens auch in den Zeiten der – wie man hier sagt – Troubles Jahr für Jahr zu veranstalten. Noch vor einem Jahr war kurz vor dem Festival eine Bombe hochgegangen, hatte zehn Leute getötet und das Opernhaus schwer in Mitleidenschaft gezogen. Es gab eine Menge Absagen, aber das Programm wurde dennoch abgespult. Im Grunde ist das Kulturfestival weniger ein Tanz auf dem Vulkan als eine notwendige Geste, mit der man den Leuten sagte: Wir lassen uns die Kultur nicht nehmen. Vielleicht, denkt man sich, ist sie ja gerade in solchen Zeiten tatsächlich nötiger als sonst.

Zum 32. Mal hat also nun das Festival im Universitätsbezirk Queens stattgefunden, und im Programm wird jeder Hinweis auf die veränderte Situation unterlassen. Statt dessen heißt es: ‚Bitte genießen Sie die Veranstaltungen, die wir für Sie vorbereitet haben – deshalb tun wir es.‘ Das Programm ist kunterbunt und umfaßt alle Künste: Konzerte und Opern, Jazz und Blues, Musicals und Folklore, Ballett und Tanz, Theater und Kabarett, Lesungen und Filme, Ausstellungen und Workshops. Und natürlich das Trinken, das in Irland ja auch irgendwie zu den Künsten gehört. Wenn der Eintritt frei ist, dann heißt es:
Bring a bottle.
Da gibt es dann also Yarnspinning with Tommy Sands, wo nicht nur Seemannsgarn gesponnen wird, oder einen Diskussionsabend mit Billy Bingham, dem ehemaligen Trainer der nordirischen Nationalmannschaft, über Fußball. Daß sich im Programm auf den ersten Blick nichts widerspiegelt von dem, was in Nordirland passiert, ist vielleicht auch nur für den Touristen enttäuschend. Die Belfaster selbst dürften die Schnauze voll haben von den Troubles. Obgleich die Rechthaberei auf den Leserbriefseiten des Belfast Telegraph unvermindert weitergeht. Da schreibt dann Ian Paisley Junior, Sohn des gleichnamigen radikalen Unionisten, die Serie über Nationalismus in den letzten Wochen sei nur wieder ein Schutzwall gewesen, hinter dem sich die Nationalisten verbarrikadieren könnten. So geht es hin und her. Und doch sagen viele, daß es hier längst nicht mehr um Glaubensfragen ginge, sondern um handfeste finanzielle Interessen, um Jobs und Schutzgelder.

Berichte unter Tränen

Andererseits bringt auch der Frieden seine finanziellen Vorteile – und das dürfte leider auch eines seiner stärksten Argumente sein. Vom nächsten Jahr an werden die ersten Kreuzfahrten auch in Nordirland Zwischenstation machen, der vorweihnachtliche Umsatz in der mittlerweile nicht mehr abgeriegelten City ist schon jetzt um 20 Prozent gestiegen, und dem Tourismus geht es nicht anders. Besonders aus Irland strömen die Leute jetzt in den Norden. Als eine Radiosendung 20 Plätze für einen Besuch in Belfast ausschrieb, meldeten sich Tausende. In der Sendung durften sie dann von ihren Erfahrungen berichten, was sie unter Tränen taten. Die eine hatte zum ersten Mal ihre Brieffreundin gesehen, ein anderer seine Großmutter. Und ein Seemann war gekommen, um das Royal Victoria Hospital wiederzusehen, wo er einst nach einem Unglück wieder zusammengeflickt worden war. Darin hat man dort in der Tat Erfahrung.
Wegen jener besonders brutalen Art der Bestrafung von vermeintlichen Verrätern, dem sogenannten kneecapping, bei dem die Kniescheiben durchschossen werden (in härteren Fällen auch Hände und Knöchel), hat man im dortigen Krankenhaus mittlerweile eine enorme Routine bei der Behandlung solcher Fälle. Und wegen der vielen Opfer von Granatsplittern gilt das Victoria Hospital als eine der weltweit führenden Kliniken für Kopfverletzungen. Das dürfte das einzig Gute sein, was die Troubles in 25 Jahren bewirkt haben.
MICHAEL ALTHEN

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