01. September 2003 | Frankfurter Allgemeine Zeitung | Bericht, Venedig | Venedig 2003 (2)

60. Filmfestspiele von Venedig

Der perfekte Mensch ißt auch in Bombay Fisch

Lars von Triers Experimentalkino glänzt beim Filmfestival Venedig - und Margarethe von Trottas ROSENSTRASSE enttäuscht

VENEDIG, 31. August
Sex werde das große Thema sein, hatte es im Vorfeld geheißen. Fürs erste kommt das Festival jedoch ganz gut ohne ihn aus. Manchmal genügt ja schon die bloße Andeutung, um Erregung auszulösen. Wenn zum Beispiel der alte dänische Dokumentarfilmer Jørgen Leth über einen Hotelflur geht und plötzlich innehält, weil hinter irgendeiner Tür ein Paar zugange ist. Die Kamera blickt ihm einfach nur ins Gesicht, und es ist, als lausche er einer Melodie, die Erinnerungen in ihm weckt. Der Film heißt DE FEM BENSPAND (Die fünf Hindernisse) und läuft eigentlich als Dokumentarfilm in der Nebenreihe „Controcorrente“, aber da er von Lars von Trier ist, kann man nie wirklich sicher sein, ob die Szene nicht inszeniert ist. Sicher gehört das Projekt der beiden Dänen aber zum Aufregendsten, was das Festival bisher zu bieten hatte.

Noch mal von vorn: Jørgen Leth ist 66, lebt als dänischer Honorarkonsul in Port-au-Prince auf Haiti und hat dreißig preisgekrönte Dokumentarfilme gedreht, darunter 1967 den zwölfminütigen Kurzfilm DER PERFEKTE MENSCH, den Lars von Trier vor lauter Begeisterung zwanzigmal gesehen hat. In dem Film sieht man einen Mann und eine Frau vor neutralem Hintergrund, mal ihn, mal sie, wie sie essen, schlafen, mal ein Auge, mal ein Ohr, ein ganz normales Paar, aber wie aus ethnologischer Sicht betrachtet. In seiner abgezirkelten Art ähnelt dieses Filmgedicht den stilisierten Phantasien des frühen Lars von Trier, ehe er mit Dogma alles auf den Kopf gestellt hat.

Trier jedenfalls fragte Leth, ob er bereit wäre, fünf Remakes dieses Films zu drehen, für die er jeweils neue Regeln aufstellen würde. Ihre Unterhaltungen und die Dreharbeiten würden Teil des Films. Leth nahm die Herausforderung an, und so wurde aus DIE FÜNF HINDERNISSE eine der intelligentesten und kurzweiligsten Betrachtungen über das Filmemachen überhaupt. Erste Bedingung: Keine Einstellung darf länger als eine halbe Sekunde dauern. Leth grollt, das werde ja ein total spastischer Film werden, aber er fügt sich, dreht in Kuba und liefert ein stroboskopisches Werk, das auch auf MTV Schule machen könnte. Wobei erheblich zur Kurzweil beiträgt, daß man nie den ganzen Film sieht, sondern immer nur Teile, die dann dem Original gegenübergestellt werden. Danach reden die beiden über das Ergebnis, der graumelierte Melancholiker Leth, der irritierter ist, als er zugibt, und der stoppelhaarige Asket Trier, der diabolisch grinst und mit dem Ergebnis nie zufrieden ist. Es sei zu perfekt; er wolle das Gegenteil, den Panzer durchbrechen, auf den Grund von Leths Seele vorstoßen. Das Projekt müsse eine Art Therapie werden. Deshalb müsse das nächste Remake an einem Ort stattfinden, vor dessen Elend sich Leth nicht verschließen könne. Was der schlimmste Ort sei, den Leth kenne?

Bombay, sagt der. Also wird er dorthin geschickt und muß die Hauptrolle selbst spielen. Da sitzt dann also Leth im Rotlichtdistrikt von Bombay, trägt einen Smoking und ißt wie einst sein perfekter Mensch Fisch, während sich hinter ihm an einer transparenten Scheibe die Inder die Nase platt drücken. Trier ist vom Ergebnis nicht begeistert. Leth hätte das Elend nicht zeigen dürfen, sondern man hätte es ihm ansehen müssen. Er solle noch mal nach Bombay. Leth, der schon das erste Mal nur mit Valium durchgestanden hat, weigert sich. Also gut: Dann solle er ein Remake machen, wie er wolle, ohne Bedingungen. Über diese Freiheit ist Leth auch nicht glücklich, aber er dreht sein Remake in Brüssel, mit den Schauspielern Patrick Bauchau und Alexandra Vandernoot, sehr elegant, sehr smart und weiter denn je von Triers therapeutischer Forderung entfernt.

Also noch einmal, diesmal als Zeichentrickfilm. Leth findet nichts langweiliger, Trier auch – um so besser. Leth geht auch diesmal nicht in die Falle, das Ergebnis ist die reinste Augenweide. Letzte Bedingung: Leth solle nur seinen Namen hergeben, Trier selbst werde einen Text schreiben, den Leth vorlesen soll. So wird nach und nach das Lethprojekt zum Trierfilm, weil all die Hindernisse mehr über den aussagen, der sie aufstellt, als über den, der sie überwinden muß. Es ist wie in Leths Dokumentation über den Fußballer Michael Laudrup, der zu elegant spielte, um sich je von einem Foul bremsen zu lassen.

Lars von Trier, der mit seinen Dogma-Regeln die Freiheit auf den Kopf gestellt hat, um sich dann selbst bald wieder anderen Dingen zuzuwenden, erweist sich erneut als fruchtbarster Quälgeist des Weltkinos. Er betreibt den Generationenkonflikt als filmisches Gesellschaftsspiel: „Dogma Reloaded“. Man würde sich wünschen, daß manchem Regisseur auf diesem Festival auch jemand Hindernisse in den Weg gestellt, den Filmen Regeln auferlegt hätte.

Zum Beispiel Margarethe von Trotta, die sich in ROSENSTRASSE mit einer Inbrunst in ihre Elendstableaus aus dem Dritten Reich versenkt, daß darin jede Erzählung zum Stillstand kommt. Die Deutschen sind noch zackiger und herzloser als anderswo und ihre jüdischen Opfer noch verzweifelter. Maria Schrader, Katja Riemann, Jürgen Vogel, sie alle spielen wie Kaninchen vor der Schlange. Wenn man die historische Folie wegzieht, bleibt nur ein Haufen Scherben, die sich zu nichts fügen. Natürlich dürfen wir nicht vergessen, niemals, aber dieser Film steht auf eine Weise stramm vor der deutschen Vergangenheit, daß selbst der Verweis auf den wahren Hintergrund der Geschichte wie eine Lüge wirkt. Ein Fall für Lars von Trier: noch mal erzählen, aber ohne Rückblenden. Oder aber ohne Juden, nur aus der Täterperspektive. Alles wäre interessanter als dieser Fall von Gesinnungskino, der in Venedig auch noch mit freundlich ergriffenem Beifall bedacht wurde.

Und noch ein Fall für Trier: LE CERF-VOLANT von Randa Chahal Sabbag, eine Geschichte von den Golanhöhen, die damit beginnt, daß sich der Drachen eines kleinen Jungen im Stacheldraht verfängt, und auf dieser symbolischen Ebene auch weitermacht. Oder der polnische Wettbewerbsbeitrag PORNOGRAFIA: Polen unter deutscher Besatzung, eine Künstlerkolonie auf dem Lande, wo man andauernd Motten im Licht verglühen sieht. Absolutes Metaphernverbot für beide.

Wenn man so will, ist das auch das Problem von Robert Bentons THE HUMAN STAIN, der Verfilmung von Philip Roths Roman „Der menschliche Makel“. Schon das Buch krankte an der Verquickung zweier Geschichten, die mit Gewalt zusammengezwungen wurden, politische Korrektheit einerseits, Rassismus andererseits. Der Film versucht das Problem durch Starpower zu lösen: Anthony Hopkins spielt den Professor, der wegen einer vermeintlich rassistischen Bemerkung vom College fliegt, aber keinem sagen kann, daß er von afroamerikanischen Eltern abstammt, weil er das Geheimnis dieses „Makels“ so tief in sich begraben hat. Nicole Kidman ist die späte Liebe, der er sich offenbart, weil er in der Verzweifelten eine verwandte Seele spürt. Der Überambitioniertheit versucht Benton durch unaufgeregte Inszenierung zu begegnen, aber am Ende kann er sich nur auf seine Stars verlassen – auf Hopkins, der zu Fred Astaire tanzt, und auf Kidman, die an den Zigaretten zieht, als ginge es um ihr Leben, und mit einem einzigen spöttischen Spitzen der Lippen Hopkins um den Verstand bringt. Das Remake müßte dann also ohne Stars auskommen. Oder noch besser: nur die Stars, aber die Vorlage über Bord.

Man sieht schon: Mit dieser Methode schlägt man das Kino in kürzester Zeit kurz und klein. Aber genau das will Lars von Trier ja auch. Nur so kann etwas Neues entstehen.

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