27. Dezember 1996 | Süddeutsche Zeitung | Bericht | Rückblick aufs Filmjahr 1996

Trauriges Funkeln am Firmament

Das erste Jahr des zweiten Jahrhunderts: Die schönsten Nebensächlichkeiten im chronologischen Schnelldurchlauf.

Es beginnt mit einem Abschied: Am 2. Januar schließt das aki-Kino an der Südseite der Schalterhalle im Münchner Hauptbahnhof. Was 45 Jahre zuvor als besserer Warteraum für Zugreisende gegründet worden war, hatte im Lauf der Zeit seinen Zweck verloren: Das Aktualitäten-Programm wurde vom Fernsehen abgelöst, und Video verdrängte die Pornos. Aber es war Teil einer persönlichen städtischen Topographie, die nach und nach durch Erlebnisparadiese ersetzt wird. Hans Schifferle schrieb in der Zeitschrift 24: ‚Das aki hinkte, solange ich es kannte, der Zeit hinterher. Es hat, und das ist bittere Ironie, den letzten Zug verpaßt. Im aki roch man förmlich den Niedergang des Kinos. Der Glamour der 50er, das Handwerkliche war noch zu spüren. Darüber lag die Freizügigkeit und das Aufbäumen der 70er. Die Uhr, für die Reisenden plakativ seitlich vorne plaziert, scheint auch die Geschichte des Kinos angezeigt zu haben…Alles wird halt zum Disneyland.‘

Am 21. Januar werden die Golden Globes vergeben: SINN & SINNLICHKEIT und EIN SCHWEINCHEN NAMENS BABE gewinnen in den Kategorien Drama und Komödie, Mel Gibson wird als bester Regisseur ausgezeichnet. Den besten Auftritt hat Sharon Stone, die von ihrem Sieg für die Rolle in CASINO mindestens so überrascht ist wie die Zuschauer. Auf der Bühne nimmt sie den Globe von Tom Hanks entgegen, stützt die Hand auf ihre Hüfte, grinst und sagt: ‚Ok, es ist ein Wunder.‘

Einen Tag später stirbt Don Simpson in Hollywood. Zusammen mit seinem Partner Jerry Bruckheimer hat er das Kino als Fortsetzung des Musik-Clips mit anderen Mitteln befeuert: Mit FLASHDANCE hatte es angefangen, mit TOP GUN und BEVERLY HILLS COP hatte das Gespann seine größten Erfolge. ‚Drogen, Sex, Rampenlichter, wilde Nächte, das Biest und die Scönen – diese seltsam altmodischen Kadenzen der Hollywoodlegenden klingen an, wenn Don Simpsons Name fällt‘, schrieb John Gregory Dunne im New Yorker. Das hat ihn beflügelt, das hat ihn umgebracht.

Am 2. Februar stirbt Gene Kelly, der vorgeführt hat, daß man kein schönes Wetter braucht, um glücklich zu sein.

Am 25. Februar wird der ehemalige kambodschanische Arzt Haing S. Ngor, der für seine Rolle des Dith Pran in KILLING FIELDS einen Oscar gewonnen hatte, in der Chinatown von Los Angeles ermordet aufgefunden.

Am 26. Februar gewinnt SINN & SINNLICHKEIT in Berlin auch noch einen Goldenen Bären und eröffnet einen Reigen von Jane-Austen-Verfilmungen. Außerdem werden Anouk Grinberg für MON HOMME und Sean Penn für DEAD MAN WALKING ausgezeichnet. Ehrengast Jack Lemmon begegnet zum ersten Mal seiner deutschen Synchronstimme Georg Thomalla. Noch mehr Aufmerksamkeit erregt allerdings das Konzert von Bruce Willis, der zur Promotion von 12 MONKEYS gekommen war. Zur selben Zeit tritt Woody Allen im Pariser Olympia mit seiner Klarinette auf.

Am 2. März bekommt die in Vergessenheit geratene Annie Girardot einen César für die beste Nebenrolle und sagt unter Tränen: ‚Ich weiß nicht, ob ich dem französischen Kino gefehlt habe, aber das französische Kino hat mir gefehlt – und das hat sehr weh getan.‘ Claude Sautet wird als Regisseur für NELLY & M. ARNAUD geehrt, sein Hauptdarsteller Michel Serrault gewinnt zum dritten Mal, und HASS von Matthieu Kassovitz wird zum besten Film des Jahres gewählt.
Am 3. März stirbt Marguerite Duras, die dem Kino mehr zu bieten hatte als nur die Verfilmungen ahnen lassen. Ihr Kameramann Bruno Nuytten erzählt nach ihrem Tode den Cahiers du cinéma: ‚Sie hatte mir die Fahnen von DER LIEBHABER gegeben. Ich habe den Roman gelesen, ohne auf die ersten Seiten zu achten. Als sie mich fragte, was ich davon halte, habe ich über das Buch gesprochen, aber sie erwartete offenbar etwas anderes. ‚Ist das alles, was du zu sagen hast?‘ Am selben Abend habe ich entdeckt, daß das Buch mir gewidmet ist. Damals habe ich nicht verstanden, welches Zeichen sie mir damit geben wollte. Jahre später habe ich sie danach gefragt. Sie sah mir in die Augen, beinahe überrascht: ‚Aber du weißt doch, Bruno, daß wir immer schon Bruder und Schwester gewesen sind.‘ Ihr Verschwinden hat paradoxerweise einen ganzen Schattenbereich in mir erhellt und gibt mir die tiefe Gewißheit, daß mir diese Arbeit helfen wird, zu leben.‘

Einen Tag später stirbt ein anderer Kameramann, Helge Weindler, dessen Bedeutung für den deutschen Film an der Betroffenheit der Branche spürbar wird. Zusammen mit seiner Frau Doris Dörrie hatte er gerade in Südspanien mit den Dreharbeiten zu BIN ICH SCHÖN? begonnen. Das Projekt wurde eingestellt.
Ein Jahr nach seinem Rückzug aus dem Filmgeschäft stirbt am 13. März KRZYSZTOF KIESLOWSKI, der dem Kino DIE ZEHN GEBOTE, DIE TRIKOLORE und DIE ZWEI LEBEN DER vERONIKA geschenkt hat. Am selben Tag stirbt Lucio Fulci, dem wir NEW YORK RIPPER und EIN ZOMBIE HING AM GLOCKENSEIL verdanken. Das sind die zwei Seiten des Kinos, die ohne einander nichts wert sind.

Am 25. März gewinnt BRAVEHEART sechs Oscars. Mel Gibson ist der große Gewinner des Abends, und Susan Sarandon und Nicolas Cage kommen endlich auch zu ihrem Recht, aber die Sympathien sind bei il postino Massimo Troisi, den der Tod nach den Dreharbeiten ereilt hatte.

Am 11. Juni stirbt Brigitte Helm, die als Androidin von METROPOLIS und Herrin von ATLANTIS dem deutschen Kino Züge verliehen hat, die von einer unglaublichen Zukunft zeugten.

Am 20. Mai verleiht die Jury unter dem Vorsitz von Francis Ford Coppola die Goldene Palme an Lars von Triers BREAKING THE WAVES, der im Dezember auch noch den Felix gewinnt, und einen Spezialpreis an David Cronenbergs CRASH, dessen Amerika-Start verschoben wird und der beim Londoner Filmfestival im Dezember von Zensoren aus dem Verkehr gezogen wird.

Ob sein Film deutsches Kino sei, hatte Romuald Karmakar im Jahr zuvor noch gesagt, werde sich im Umgang mit seinem Film zeigen. Am 31. Mai gewinnt DER TOTMACHER drei Bundesfilmpreise. Einen für Götz George, die anderen beiden nimmt Karmakar selbst entgegen: Beim ersten ist der Mann noch cool, beim zweiten ringt er sichtlich um Fassung. Mit so viel Respekt hatte er nicht gerechnet. Später wird DER TOTMACHER auch noch zum deutschen Anwärter auf den Auslands-Oscar erkoren.

Am 1. Juli wird Margaux Hemingway tot aufgefunden. Manchmal braucht es keine großen Filme, um dem Kino ans Herz zu wachsen – manchmal genügen auch große Namen.

Am 4. Juli startet in den USA Roland Emmerichs INDEPENDENCE DAY und schlägt alle bestehenden Rekorde. In nur sechs Tagen durchbricht er die magische 100-Millionen-Dollar-Grenze. Am Ende hat er über 300 und im Rest der Welt knapp 400 Millionen eingespielt und landet in der ewigen Erfolgsliste hinter E.T. und JURASSIC PARK.

Am 30. Juli stirbt Claudette Colbert, Clark Gables Partnerin in ES GESCHAH IN EINNER NACHT. Sie stammte aus einer Zeit, als Frauen noch ein Pfandschein genügte, um in der besseren Gesellschaft ihren Mann zu stehen.

Ende Juli gibt Emir Kusturica bekannt, daß er doch wieder Filme drehen wird – entweder ein Projekt mit Daniel Auteuil oder SCHWARZE KATZE, WEISSER KATER mit der Hamburger Filmförderung. Nach den Kritiken an UNDERGROUND hatte er im Dezember erklärt, sich aus dem Geschäft zurückzuziehen.

Im August erscheint die Filmseiten-Serie 100 JAHRE KINO – 100 JAHRE DEUTSCHER FILM als Buch unter dem Titel „Deutsche Augenblicke“ bei belleville.
Peter Buchka schreibt im Vorwort: ‚Es ist das große Mißverständnis, wenn man immer noch glaubt, der Film bewahre nur das Sichtbare in seiner natürlichen Bewegung. Dabei ist das Unsichtbare, das er in seinen Bildern transportiert, sehr viel wichtiger: also Bewegtheit statt Bewegung, Sehnsucht statt Handlung, Geist statt Natur.‘

Am 30. August begeht die französische Regisseurin und Schauspielerin Christine Pascal in Paris Selbstmord, indem sie sich aus dem Fenster einer psychiatrischen Heilanstalt stürzt. Ihre Kollegin Cathérine Breillat schreibt in den Cahiers: ‚Der kleine goldene Stern, den sie stets um den Hals trug, wird für ewig traurig am Firmament unseres Gewissens funkeln.‘

Neil Jordans IRA-Drama Michael Collins gewinnt am 9. September in Venedig unter dem Vorsitz von Roman Polanski den Goldenen Löwen. Die vierjährige Victoire Thivisol wird in Doillons Ponnette als beste Hauptdarstellerin ausgezeichnet – gerade die Schauspieler in der Jury hätten dafür gestimmt, berichtet später Antonio Skarmeta.

Am 28. September, ihrem 62. Geburtstag, erscheinen in Frankreich die Memoiren von Brigitte Bardot.

Am 25. Oktober veröffentlicht Entertainment Weekly seine jährliche Liste der 101 wichtigsten Leute in der Unterhaltungsbranche: Platz 1 Rupert Murdoch, gefolgt von Michael Eisner und TimeWarner-Chef Gerald Levin. Der erste Kreative auf Platz 11: Steven Spielberg, der erste Schauspieler auf Platz 15: Tom Hanks. Roland Emmerich landet mit seinem Partner Dean Devlin immerhin auf Platz 52, vor Schwarzenegger, Brad Pitt, Kevin Costner und Harrison Ford.

Am 18. Dezember ersteigert allen Verhinderungsversuchen der Academy zum Trotz ein Unbekannter bei Christie’s in Los Angeles für eine knappe Million Mark Clark Gables Oscar, den der 1934 für ES GESCHAH IN EINEr NACHT gewonnen hatte. Hinterher gibt sich der Käufer zu erkennen: Es war Steven Spielberg, der die Statuette der Academy zum Geschenk macht.

Die Filmförderungsanstalt sagt ein neues Rekordjahr voraus: Man rechne mit 135 bis 137 Millionen Zuschauern, ein paar Millionen mehr als im bisherigen Rekordjahr 1994. Der deutsche Film wird einen Anteil von 17 Prozent haben. Neben WERNER – DAS MUSS KESSELN (5 Millionen Zuschauer) sind dafür verantwortlich: Detlev Bucks MÄNNERPENSION (3,3 Mio), Sönke Wortmanns DAS SUPERWEIB (2,3 Mio), Sherry Hormanns IRREN IST MÄNNLICH (1,4 Mio) und Rolf Silbers ECHTE KERLE (1,2 Mio). Der heimliche Gewinner ist jedoch Wolfgang Panzers BROKEN SILENCE, der sich auch ohne Marketing-Strategie und Werbe-Etat bei den Zuschauern durchsetzt. Auch das gibt es noch.

Und die Toten unter denen, die wir lieben, mehren sich: die Schauspieler Howard Vernon, Ben Johnson, Dorothy Lamour, Joanne Dru, Jo van Fleet, Annabella, Maria Casares – und natürlich Marcello Mastroianni. Und die Regisseure Marcel Carné, René Clement und Tomas Gutierrez Aléa, Kameramann John Alton, Komponist Toru Takemitsu, Bond-Produzent Albert S. Broccoli, Dokumentarist Erwin Leiser, Filmarchitekt Alfred Hirschmaier…

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


12 − 3 =