01. Juli 1993 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Weitere Festivals | Filmfest München 1993

Im Land von Tod und Finsternis

Dokumentarfilme auf dem Münchner Filmfest

Wo das Leben aufhört, da fangen die Träume an. Und wo die Wirklichkeit an ihre Grenzen stößt, da beginnt das Reich der Kunst. Dazwischen aber liegt ein Fluß, der immer wieder über die Ufer tritt oder die Befestigungen unterspült. Was er mit sich reißt, das taucht flußabwärts hüben oder drüben wieder auf. Ein reger Fährverkehr ist dort im Gange, ein stetes An- und Ablegen, das viele Beiträge auf diesem Filmfest dokumentieren.

Die BBC Scotland hat diese Grenzgängerei in ihrer Reihe A Director’s Place zum Programm erhoben. Sie baten Regisseure wie Lindsay Anderson, John Boorman, Nagisa Oshima und Susan Seidelman eine Dreiviertelstunde lang von einem Ort oder einer Zeit zu erzählen, die ihnen für ihr Werk besonders wichtig erscheint. Anderson wählte seinen Londoner Alltag, Boorman seine irische Wahlheimat, Seidelman ihre Jugend in New Jersey und Oshima das Kyotoer Leben seiner Mutter. Reisen in Gebiete sind das, aus denen die Fiktionen sich speisen, Wanderungen durch ein Gelände, auf dessen verschlungenen Pfaden die Erzähler sich blind zurechtfinden.

Vor dem Spiegel steht John Boorman in I Dreamt I Woke Up (morgen um 17.30 Uhr im Theatiner) und rasiert sich. Das sei der einzige Moment, wo er sich vor dem Spiegel wenigstens teilweise eins mit seinem Bild fühle. Ansonsten entspreche das, was er sehe, nicht dem, was er fühle. Damit beginnen die Fiktionen, so trennt sich das Erzählte vom Erzähler. Und in der Folge wechselt der Film immer wieder zwischen dem Regisseur und seinem von John Hurt verkörperten Alter Ego hin und her. Wie beim Stromüberschlag springt das Bild vom einen zum anderen, wenn sich die Wirklichkeit mit genügend Erfindungen aufgeladen hat.

Vom Gleichklang zwischen Natur und Kunst leben diese Reflektionen, von einer Harmonie, die Boorman auch dadurch sucht, daß er sich um die Aufforstung seiner Umgebung bemüht. So wandelt man mit dem englischen Regisseur durch das irische County Wicklow, dieser atemberaubenden Landschaft seiner Seele, und trifft auf jene Mythen, um die seine Filme Deliverance und besonders Excalibur kreisen. Gerade dazu bilden Susan Seidelmans Confessions of a Suburban Girl (heute um 17.30 Uhr im Theatiner) einen aufregenden Kontrast, weil ihre Geständnisse aus der mythenfernsten Landschaft kommen, die man sich vorstellen kann: aus Huntingdon Valley, einem Vorort von Philadelphia, der wie alle Vororte der Welt ein völliges Ödland der Imagination darstellt.

In Gesprächen mit ihren Freundinnen von einst entsteht das Bild einer amerikanischen Jugend, der zu entwachsen sich die Frauen bis heute bemühen. Da kann man es unter den sauberen Oberflächen brodeln sehen und nachvollziehen, wie die Bewunderung der braven Mädchen für die Bad Girls ihr Leben formte. So gesehen haben sich in Suburbia dann doch die ganz eigenen amerikanischen Mythen niedergeschlagen, die dann in Desperately Seeking Susan und Die Teufelin zum Ausdruck kamen.

Ein Selbstporträt ganz anderer Art entwirft Frank Perry von sich, in dem die Kunst aus der Begegnung des Lebens mit dem Tode entsteht. 1991 erfuhr der Regisseur von Filmen wie David und Lisa, Der Schwimmer oder Meine liebe Rabenmutter, daß er Prostatakrebs hat und beschloß, seine Krankheitsgeschichte zu dokumentieren. Zwischen Hoffen und Bangen, Verzweiflung und Erleichterung schwankt der Film, dessen Happy-end naturgemäß nur mit beschränkter Haftung zu genießen ist. On the Bridge heißt dieser Grenzlandbericht, der eine Brücke schlägt von der Wirklichkeit in jene Bereiche, die sie in Frage stellen.

Die vielschichtigste Auseinandersetzung mit der Wechselbeziehung von Realität und Fiktion zeigt George Hickenloopers Picture This: The Times of Peter Bogdanovich in Archer City, Texas. 1971 hatte Bogdanovich The Last Picture Show gedreht und zwanzig Jahre später die Fortsetzung Texasville. Die Vorlage stammte vom gleichen Autor, die Schauspieler blieben dieselben und auch im Team fanden sich Leute von einst wieder. Hickenlooper befragt Beteiligte, verwendet Filmausschnitte und Drehberichte. So kann man erleben, wie sich Erfindung und Wirklichkeit aneinander reiben, wie sich Privates und Professionelles vermischen und verwischen. Man ist gemeinsam älter geworden, man hat sich auseinandergelebt. Eine doppelte Erinnerungsarbeit ist hier im Gange, die immer wieder Überlagerungen erzeugt.

Einmal sitzt Timothy Bottoms am Ufer und erzählt, wie er sich damals in Cybill Shepherd verliebt hat, als er sie für den Film küssen und berühren durfte. Und wie sehr ihn das schmerzt, daß sie ihm heute wie damals keinerlei Beachtung schenkt. Und später, als er an einer anderen Stelle Rede und Antwort steht, nähert sich ihm Cybill von hinten, umarmt ihn, küßt ihn und verschwindet so schnell, wie gekommen ist. Und man sieht, wie Bottoms versonnen den Kopf schüttelt, als wolle er sagen: ‚Sehen Sie, was ich meine?‘ Da bekommt man dann auf einmal eine Ahnung davon, wie weit die Quelle der Fiktionen von ihrer Mündung entfernt liegt.

Das sind natürlich alles viel kühnere Brückenschläge als die der Porträts von Warren Oates oder Leonard Bernstein, die nur vom Charisma ihres Gegenstandes zehren, ohne je einen eigenen Ton zu suchen. Und auf ähnliche Weise lebt auch Georg Stefan Trollers Mord aus Liebe von der eigenwilligen Intonation des Regisseurs, die schon im Fernsehen seinen Arbeiten ihren unverwechselbaren Ton gibt. Die Struktur, die er seiner Dokumentation über Mörder gibt, trägt ihn zwar sicher über die Spielfilmdistanz, aber macht daraus noch lange keinen Kinofilm. Ähnliches gilt auch für Dagmar Wagners Film Das Ei ist eine geschissene Gottesgabe (morgen um 15 Uhr im Rio), in dem sie von einem Hof im Hinterland des Starnberger Sees erzählt. Was eigentlich ihr Thema ist, bleibt so ungenau wie die Bilder von ihrem Kameramann Igor Luther, die sich lieber im Beschaulichen verlieren statt wirklich zuzuschauen.

Wie man die Schönheit der Bilder in den Dienst des Gegenstands stellen kann, zeigen Ralf Zöller und sein Kameramann Benedict Neuenfels. In ihrem hinreißenden Porträt des blinden slowenischen Photographen Evgen Bavcar vollbringen sie die Kunst, in ihren Einstellungen dem Echo seiner Bilder nachzuspüren. In Venedig und Paris folgen sie dem Blinden durch seine Welt, in der Träume und Wirklichkeit auf ganz natürliche Weise ineinanderfließen. Auf so kluge wie sensible Weise führt Bilder von anderswo (heute um 17.30 Uhr im Rio) vor, daß die Annäherung an ein Thema wie eine Reise sein muß, deren Ausgang ungewiß ist. Das hat Zöller von Bavcar gelernt, der für jedes Bild einen Weg zurücklegen muß, um es sich zu ertasten. Von diesem Blinden könnten noch viele Regisseure etwas lernen.
MICHAEL ALTHEN

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