02. Juli 1992 | Süddeutsche Zeitung | Bericht | Deutsches Kino Filmreihe

Träume vom Kino

Ein Dach, aber kein Haus: Die Reihe der deutschsprachigen Filme im Rio

Ein künstliches Schneegestöber tobt. Ein Männergesangsverein legt los. Ein Mädchen kommt vom Frauenarzt. Eine Frau wird verfolgt. Ein Schwein wird geschlachtet. Ein Frauentrio sitzt im Auto. Bilder vom Paradies werden gezeigt. So fangen die Filme an. Und für ein paar Minuten ist die Welt in Ordnung. Das deutsche Kino lebt, es geht ihm gut. Das ist der Moment, wo sich Wille und Vorstellung treffen. Ein Traum.

Es gibt einen wunderbaren deutschen oder genauer deutschsprachigen Film. Szene um Szene trifft uns ins Mark oder rührt ans Herz. Er besitzt Witz und Wucht, Gefühl und Genie. Es ist unbeschreiblich…

Eine Rothaarige (Gaby Herz) tanzt in einem kurzen Kleid auf dem Deck eines Spreedampfers. Unter ihr eine Hochzeitsgesellschaft, über ihr der verhangene Berliner Himmel. Sie hat etwas mehr getrunken, als ihr gut tut; aber das macht ihren Tanz nur noch schöner. Als sie fertig ist, tritt ein Mann (Leonhard Lansink) zu ihr an die Reling und sagt: ‚Sie haben schöne Beine. Kräftig.‘

Zwei Jungs (Oliver Bröcker und Jonas Kipp) eröffnen in der Küche einen Mordprozeß gegen die etwas vertrottelte Oma. Die Alte protestiert ungläubig, aber die beiden sind nicht zu bremsen. Schnell haben sie das Todesurteil gefällt. Weil gerade kein elektrischer Stuhl zur Hand ist, geben sie sich auch mit zehn Mark Abschlagszahlung zufrieden.

Ein junger Schauspieler tritt vor die Prüfungskomission der Falckenberg- Schule und stellt sich vor als Otto Falckenberg. Auf die verdutzten Gesichter der Prüfer hin fügt er hinzu: ‚Kleiner Scherz.‘ Er kommt aus Franken.

Ein Mechaniker mit verschmiertem Gesicht wird von einer Freundin (Barbara Auer) geküßt. Als er die Mütze abnimmt, fallen lange Haare heraus. Dann erst merkt man, daß es sich um eine Frau (Suzanne von Borsody) handelt.

Nach dem Unfall ihrer Tochter (Muriel Baumeister) sitzen die Eltern und ihr Freund auf dem Krankenhausflur und warten. Als der Arzt kommt, beruhigt er sie: Die Tochter müsse zwar noch bleiben, aber dem Kind sei nichts passiert. Die Eltern sind aber alles andere als beruhigt, weil sie zum ersten Mal hören, daß ihre Tochter schwanger ist.

Ein Mädchen (Stefanie Philipp), die mit zwei Komplizen wochenlang ein Attentat geplant hat, gönnt sich vor dem großen Tag einen freien Abend. Und kauft sich auf dem Jahrmarkt eine große Tüte Süßigkeiten. Als gäbe es keine größere Freiheit auf der Welt.

Eine Frau (Barbara Nüsse) wurde verlassen und brüllt vor Schmerz. Als sie sich beruhigt hat, will sie die Trennung zum Entsetzen eines Freundes mit einem Kaninchenbraten besiegeln. Ihr zuliebe opfert der Freund eines seiner geliebten Kaninchen. Aber er nimmt das, das er Eva Braun getauft hatte.
Ein Junge hat in seinem Zimmer ein Mädchen, das er vor einer Videothek kennengelernt hat, angeschossen. So wie er es in den Videos gesehen hat. Als sie nicht zu schreien aufhört, beendet er sein Werk mit einem Kopfschuß. So wie er es auf dem Land bei der Schlachtung eines Schweins erlebt hat.

Diesen Film gibt es natürlich nicht, die Szenen jedoch schon. Sie finden sich der Reihenfolge nach in Pia Frankenbergs NIE WIEDER SCHLAFEN – NIE MEHR ZURÜCK, Wolfgang Beckers KINDERSPIELE, Sönke Wortmanns KLEINE HAIE, Markus Fischers BRANDNACHT, Bernd Schadewalds SCHULD WAR NUR DER BOSSANOVA, Philip Grönings DIE TERRORISTEN!, Franziska Buchs DiE UNGEWISSE LAGE DES PARADIESES und Michael Hanekes BENNY’S ViDEO. Das sind zum Teil schöne, zum Teil interessante Filme. Langweilig ist keiner, aber so vollständig gelungen, wie man es sich wünschen möchte, ist auch keiner.

Sie könne den Satz vom Geschichtenerzählen nicht mehr hören, sagt Pia Frankenberg. Was vor allem heißt, daß die deutschen Regisseure die Verallgemeinerungen satt haben. Daß sie nicht mehr über einen Leisten geschert werden sollen. Und daß sie nicht mit jedem Film die Ausnahme von der Regel bestätigen wollen.

Nichts gegen die deutschsprachige Reihe auf dem Filmfest: Seit einiger Zeit schon ist sie die beste ihrer Art. Aber möglicherweise ist das keine Heimat mehr für diese Filmemacher. Vielleicht finden sie unter diesem Dach nicht mehr genügend Platz. Und unter Umständen täte ihnen eine Befreiung aus dem Reservat der Reihe ganz gut. Dann müßte nicht mehr jeder für jeden einstehen. Einerseits. Andererseits würde dem deutschen Kino dann ein Forum verloren gehen. Vergessen wir also das deutsche Kino und reden über deutsche Filme.

Geschichtenerzählen kann Pia Frankenberg ihrem Überdruß zum Trotz ziemlich gut. Drei Frauen (Lisa Kreuzer, Christiane Carstens und Gaby Herz) kommen zur Hochzeit einer Freundin nach Berlin und verbringen dort einen Tag und eine Nacht. An der ganz langen Leine ist das Trio nie so gut wie in jenen Szenen, wo Pia Frankenberg und ihre Autorin Karin Aström den Sätzen eine Form und der Neugier ein Forum geben. Wenn sich die drei in einer Kneipe betrinken, bleibt der Film hinter dem Niveau zurück, das er vorher auf einem verwilderten Freidhof und nachher in den frühen Morgenstunden erreicht. Denn dort beweist Pia Frankenberg ihr gutes Auge für jene Momente des Schweigens und der Leere und entfaltet jenen entspannten Witz, der auch schon NICHT NICHTS OHNE DICH und BRENNENDE BETTEN ausgezeichnet hat.

Auch Sönke Wortmann kann Geschichten erzählen, besser als die meisten sogar. Die Odyssee dreier Jungs auf Schauspielschulprüfungen zwischen Essen und München muß sich hinter keinem vergleichbaren amerikanischen Film verstecken. Im Drehbuch von Jürgen Egger sitzt jeder Satz, und Wortmanns Regie ist von jener professionellen Selbstverständlichkeit, die auch schon Allein unter Frauen zum Erfolg machte. Wie dort erinnern die Auseinandersetzungen zwar etwas zu oft an Schattenboxen, aber die Geschichte hat diesmal genügend überraschende Wendungen, um den Eindruck zu verwischen, daß eigentlich zu wenig auf dem Spiel steht.

Philip Gröning liegt am anderen Ende des Spektrums. Das konventionelle Erzählen interessiert ihn wenig. Und doch besitzt DIE TERRORISTEN! eine im besten Sinne konventionelle Spannung. Ein Mädchen und zwei Jungs planen ein Attentat auf den Kanzler – und man bangt mit ihnen.

Da kommt dann zum Tragen, was sich im konfusen Anfang noch nicht einstellt: Jene rohe Poesie der Montage, in dem das weit Auseinanderliegende sich auf einmal zur Atmosphäre verdichtet. Wenn die verschiedenen Bilder aus Kanzlerreden und Kaufhäusern, Zuglandschaften und Computerbildern einen Rhythmus finden, in dem eins das andere bedingt. Wenn die Bewegung die natürliche Folge des Stillstands wird und der Terror eine logische Antwort auf die Selbstgefälligkeit. Da stört es dann auch nicht mehr, daß die Helden selten mehr als Spielfiguren sind.

Bei dem Österreicher Michael Haneke wurde mit den Figuren schon in DER SIEBENTE KONTINENT ein eisiges Spiel getrieben. Auch BENNY’S VIDEO ist ein fühlloses Experiment, in dem der Mensch in Verhaltensweisen und die Welt in Wahrnehmungsmuster zerlegt wird. Inmitten flimmernder Bildschirme und laufender Kameras bringt ein Junge ein Mädchen um. Einfach so. Auf den Schock der Familie folgt die bürgerliche Routine. Keiner seziert so gnadenlos wie Haneke. Und seine Autopsie der Gesellschaft zeigt Herzen aus Glas, als Reaktion bleibt nur Faszination und Erschrecken.

Der beste Film unter den Guten ist Wolfgang Beckers KINDERSPIELE, der seine Form ohne große Anstrengungen findet. Die Schmucklosigkeit der Inszenierung kann man auch Schnörkellosigkeit nennen, denn sie erwächst aus dem Erzählten. Die Sommerferien der beiden Jungs aus dem Ruhrpott markieren das Ende der Kindheit und den Beginn der Jugend. Am besten bringt dabei der gespielte Mordprozeß gegen die Oma zum Ausdruck, wie sich in diesem Film Unschuld und Schamlosigkeit, Brutalität und Verletzlichkeit, Normalität und Verrücktheit verbinden. Die naiven Phantasien Pubertierender verbinden sich mit der Grausamkeit Heranwachsender. Eine heikle Balance wagen Becker und sein Co-Autor Horst J.Sczerba und haben vom forcierten Schluß abgesehen auch Erfolg damit.

Man sieht und hört in diesem und den anderen Filmen sowohl Dinge, die man noch nicht gesehen hat, als auch Sachen, in denen man die eigene Welt wiedererkennt. Man merkt eben, daß sie etwas zu erzählen haben.

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