24. Juli 1985 | Süddeutsche Zeitung | Bericht | Kinoreihe im Maxim

Der andere, misstrauische Blick

Zu einer Reihe neuer deutscher Filme im Münchner Maxim

Das Reizwort heißt Hollywood. Es steht für eine Sicht der Welt, die von der Wirklichkeit ablenkt und das Denken ausschaltet, um den Zuschauer einzulullen, statt ihn wachzurütteln. Wenn die Reihe mit Arbeiten junger Filmemacher aus Deutschland „Der andere Blick“ heißt, dann also in erster Linie, weil man sich abgrenzen möchte von Hollywood, von dessen Bildern und Erzählformen. Aber es geht nicht nur um eine andere Art der Darstellung, sondern auch um eine andere Realität – und wohl auch um die Angst vor der eigenen Verführbarkeit, ein tiefes Mißtrauen gegen die betäubende Macht der Bilder.

Von einer „neuen, tiefergehenden Kraft des Kinos“ ist die Rede, von „Bildern zum Festhalten“. Man sollte solche Postulate als das nehmen, was sie sind: starke Worte, mit denen jemand auf sich aufmerksam machen will, die man folglich nicht auf die Goldwaage legen sollte. Ziel der jungen deutschen Filmgeneration ist zuerst einmal, die alleinige Kontrolle über ihre Arbeit zu behalten, und dann in zweiter Linie, den „sich selbst reproduzierenden Erzählmustern“ etwas entgegenzustellen. Darin einen Beweis dafür zu sehen, daß das Autorenkino nicht tot ist, wäre unsinnig.

Was „Der andere Blick“ auch ist: eine Verleihinitiative. Auch deshalb ist es weitgehend sinnlos, nach Gemeinsamkeiten zu suchen; zumal die qualitativen und thematischen Unterschiede zum Teil beträchtlich sind. Zumindest läßt sich feststellen, daß in der Reihe ein „unabhängiger“ Blick aufs eigene Land gewährleistet ist.

Die Schwachstelle des deutschen Kinos sind die Drehbuchautoren. Die kann man umgehen durch den Dokumentarfilm, bei dem es in erster Linie auf die Organisation des gedrehten Materials ankommt. Denn die Leute reden wie sie reden, ihrer Sprache ist kein Kunstwille zwischengeschaltet, ihre Lebendigkeit muß nicht erst geschaffen werden. Womit keineswegs die Leistung der Dokumentarfilmer herabgewürdigt werden soll, sondern nur angedeutet wird, daß das weite Feld des nicht-fiktionalen Films ein Ausweg aus der Krise sein könnte. Dort läßt sich – wie man an Oliver Herbrich sieht – einiges lernen über den Umgang mit Stoffen, über ihre Umsetzung in Bilder und vor allem darüber, wie Menschen in Wirklichkeit reden. Daß die Besinnung auf diese Form spannendere Resultate als viele fiktive Geschichten ergeben kann, beweisen die Dokumentarfilme von Mathias Allary und Jan Schütte.

Allarys „Polster-Willi“ erzählt von einem Düsseldorfer Altmetallsammler, der allein in einem Bauwagen haust und mit seinem Traktor überall dort hinfähr, wo es Schrott zu holen gibt. Am Beispiel dieses Außenseiters entwickelt Allary ein Negativ, ein Abziehbild unserer Wegwerfgesellschaft. Er stellt gegenüber, montiert Gegensätzliches: etwa die Schaufenster der Einkaufsstraßen und die Müllandschaften der Schrottplätze, oder die spiegelglatten Bürotürme und die Silhouetten der Industrieanlagen. Die Differenz demontiert Begriffe wie „schön“ oder „häßlich“. In „Polster-Willi“ sieht man, was dem deutschen Film so oft abgeht: die Schilderung von Abläufen, davon, wie etwas gemacht wird. Die Kamera zeigt, wie Willi Fensterrahmen entglast oder dem Schrott Rohkupfer abgewinnt. Diese Ausrichtung auf das praktische Interesse, aufs Handwerk, ist der Anfang des Geschichtenerzählens.

In den zwanziger Jahren wollte Frieda Müller nach Amerika auswandern, ist dann aber doch erstmal ins Nachbardorf umgezogen, „das Heimweh probieren“. Dort ist die Bäuerin ihr Leben lang geblieben. Jan Schütte folgt in seinen beiden Dokumentarfilmen den verschütteten Spuren der Vergangenheit, beide Male mittels Photos und Interviews. Gesellschaftliche Wirklichkeit teilt sich bei ihm auf dem Umweg über gescheiterte Träume mit, etwa wenn Frau Müller in „Eigentlich wollte ich ja nach Amerika“ die Photos ihrer Schwester, die geschafft hat, was ihr verwehrt blieb, kommentiert; oder wenn sich in „Da ist nirgends nichts gewesen außer hier“ fünf Mössinger an den Generalstreik erinnern, mit dem sie – nicht ahnend, daß sie die einzigen waren – Hitlers Machtergreifung verhindern wollten. Der Blick richtet sich hier auf anderes, rekonstruiert Schicksale, aber er ist kein anderer, denn die Erzählform unterscheidet sich nicht von denen des Fernsehens.

Von einem Zeugen der Vergangenheit geht auch Nico Hofmanns Spielfilm aus. Aus einem Briefwechsel mit seinem Vater entstand „Der Krieg meines Vaters“, ein Film über die Bewußtwerdung des jungen Hans Witte, der im Winter 1942 zum Kriegsdienst einberufen wird. Dessen Hobby sind nicht von ungefähr Brieftauben, denn der Pazifismus ist natürlich die unausgesprochene Hoffnung des Regisseurs. Daß er es bei diesem Symbol beläßt und statt dessen nur Indizien für die Gewalt, mit der der Krieg auch in der Heimat wirkt, sammelt, macht den Film so sympathisch. Außerdem hat hier einer auch mit seinen Bildern etwas zu erzählen; die stärker werdende Ablehnung, die zunehmende Distanz zur Außenwelt spiegelt sich in ihnen wider.

Zwei Filme über Haftentflohene offenbaren Glanz und Elend des deutschen Kinos. Wobei Christian Wagners klischeehaftes Stück Gymnasiastenpoesie „Eingeschlossen frei zu sein“ dadurch unfreiwillig komisch wird, daß er ans Ende die in Fernsehansagen obligate Entschuldigung setzt.

Auch in Lutz Konermanns „Aufdermauer“ steht am Ende gesprochener Text, aber keine Erläuterungen, sondern ein Aufschrei, der den Untertitel rechtfertigt: „Ein Film als Gnadengesuch“. Nach einem einfallsreichen Anfang, der das Verstreichen von Zeit anhand der Veränderung vor dem Zellenfenster bebildert, erzählt Konermann von dem zu lebenslänglicher Haftstrafe verurteilten Albert Aufdermauer, der einen eintägigen Hafturlaub auf zwanzig Tage ausdehnt. Mit dieser Figur, von Klaus Abramowsky hervorragend gespielt, erfährt man neu, was Freiheit ist. Und schämt sich zugleich dafür, daß die Welt so ist, wie sie ist. (Albert Aufdermauer ist mittlerweile begnadigt.)

Mehr als ihre Kollegen experimentieren Nicolas Humbert und Werner Penzel mit den traditionellen Erzählformen. Beide erzählen konkrete fiktive Geschichten, beide verrätseln sie diese, aber auf höchst unterschiedliche Weise. Humbert verstellt in „Nebel Jagen“, einem extrem hart kopierten Film, den Blick durch Sätze, die die Geschichte nicht vorantreiben, sondern sie in szenische Bestandteile auflösen. Penzel benutzt in seiner ägyptischen Kriminalstory „Bokra – Piraten der Stille“ die Kamera dazu, uns zu verwirren. Kairo wird durch seine stilisierte Inszenierung zur Kulisse, vor der eine Amerikanerin und eine Koreanerin versuchen, zu Geld zu kommen. „Bokra“ ist der vielleicht interessanteste Film dieser Reihe, weil Penzel auf sehr ökonomische Weise Fiktion in der Realität ansiedelt, um eine alte Geschichte auf neue Art zu erzählen.

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