15. Mai 1999 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1999 (6)

52. Filmfestspiele in Cannes

Am Rande des Totenreichs

Filme von Leos Carax und Andreas Kleinert in Wettbewerb und „Quinzaine”

Robert Mitchum hat mal gesagt, das Kino sei ein Jahrmarktsgeschäft: Nur erfunden, um die Leute abzulenken, während ihnen das Geld aus der Tasche gezogen wird. Wie in allen schönen Geschichten steckt auch in dieser ein Körnchen Wahrheit.

Eine andere wahre, weniger schöne Geschichte: Man schläft im Hotelzimmer, man hat das Fenster aufgelassen – und schwachsinnigerweise auch die Fensterläden. Als man am anderen Morgen aufwacht, sind der Geldbeutel fort, die Ausweise, Kreditkarten – alles. Immerhin ist der Festivalausweis noch da – ohne den wäre man in Cannes ein toter Mann.
Wenn man sich vorstellt, wie es gewesen sein muß, dann hat man vor allem Filme vor Augen, vor allem an der Côte d’Azur, wo einst John Robie, genannt die Katze, „über den Dächern von Nizza” nächtens in die Hotelzimmer eingestiegen ist und Juwelen geraubt hat. Man hat seine Silhouette vor sich, und wenn man die Maske abreißt, verbirgt sich darunter nicht Cary Grant, sondern eine junge Frau. Oder Fantomas, dessen Gestalt über der schlafenden Stadt liegt, als sei er den Träumen ihrer Bewohner wie Rauch aus den Schornsteinen entstiegen. Oder die Nachtgestalten in Franjus „Judex”, die an den Fassaden emporklettern wie die Schatten des Mondes.

Das Kino ist kein Trost, aber es liefert Bilder für jene Gefühle der Überwältigung, für die wir keine Erklärungen haben. Auf einem Filmfestival wie Cannes läuft man jedenfalls immer wieder Gefahr, die Wirklichkeit für einen Traum zu halten – und sei es ein schlechter. Wie ein Alpdruck liegen jedenfalls die Filme auf dem Gemüt, mit denen Festival und Quinzaine sich zu Beginn präsentierten, hier Leos Carax mit „Pola X”, dort Andreas Kleinert mit „Wege in die Nacht” – und tatsächlich gibt es gewisse Gemeinsamkeiten, auch wenn Carax sozusagen in einer eigenen Liga spielt.

„Pola X” beginnt mit den Bildern von Bombern und Jagdflugzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg, deren Angriffe aber Friedhöfen gelten, auf denen Explosionen die Grabkreuze durch die Luft schleudern. Bei Kleinert wiederum besucht Hilmar Thate das alte stillgelegte Fabrikgelände, auf dem er einst Wachmann war und von dem es heißt, daß es wie das Jenseits aussehe. Beide Filme beginnen also am Rande des Totenreichs – und am Ende werden dessen Schatten die Helden eingeholt haben.

Das sind also sozusagen die ersten Reaktionen auf die diversen Forderungen, das Kino stünde angesichts des Krieges im Kosovo unter besonderem Legitimationsdruck. Kristin Scott Thomas forderte in ihrer Ansprache auf der Eröffnungs-Gala, Filme sollten als Gegengift für Vergessen und Indifferenz wirken. In der Tat handelt gerade „Wege in die Nacht” davon, ob sich Gewalt mit Gegengewalt sinnvoll bekämpfen läßt. Der arbeitslose Wachmann, der ganz eigene Vorstellungen von Recht und Ordnung hat, zieht nächtens mit einem jungen Pärchen als selbsternanntes Team von Racheengeln durch die Berliner U-Bahnen und schreitet ein, wo jugendliche Gewalttäter in- und ausländische Fahrgäste bedrohen. Seine beiden Helfer schlagen ihre Gegner zusammen und treiben sie in die Flucht – das fragwürdige System von Gerechtigkeit bricht allerdings zusammen, als Thate einen jungen Mann zwingt, aus dem fahrenden Zug zu springen.

Andreas Kleinerts Film lebt von Jürgen Jürges phantastischer Schwarzweißphotographie, die immer wieder einen Ausdruck findet für das, was gemeint, aber nicht gesagt wird, also für das, was den Helden bedrängt, aber hinter seiner unbewegten Miene verschlossen bleibt. Diese Art verquälter Seelenlandschaften, durch die sich der Film bewegt, ist ja eigentlich typisch für jenes deutsche Kino, von dem man sich hierzulande seit einiger Zeit abzusetzen versucht. Kleinert, der noch in der DDR auf die Filmschule ging, macht Filme, als habe er diese Entwicklung verschlafen – das ist nicht unbedingt ein Schaden, weil er im Unterschied zu den meisten anderen Regisseuren offenbar weiß, was und wie er erzählen möchte. Und daß er damit von der neuen Chefin Marie-Pierre Macia zur Eröffnung der Quinzaine eingeladen wurde, gibt ihm dabei recht. Schließlich ist „Wege in die Nacht” der einzige deutsche Spielfilm in Cannes, nachdem alle Klagen über das konsequente Übergehen der Deutschen im Wettbewerb auch nur dazu geführt haben, daß Doris Dörrie in der Jury sitzt und Werner Herzogs Kinski-Dokumentation außer Konkurrenz gezeigt wird.

Immerhin hat „Pola X” einen deutschen Coproduzenten, Karl Baumgartner, und wurde zum Teil mit Fördergeldern in Nordrhein-Westfalen gedreht – auch wenn das dem deutschen Kino keine Spur weiterhilft. „Pola X” ist ohnehin ein Film aus einem Niemandsland, das irgendwo zwischen Genie und Wahnsinn liegt, ein Phantomfilm, der aus den Gräbern aufsteigt, kurz ins Sonnenlicht blinzelt und wieder ins Reich der Schatten verschwindet. Acht Jahre sind seit den „Liebenden von Pont-Neuf” vergangen. „Wo sind Sie gewesen”, wird Leos Carax im Presseheft gefragt, und er antwortet: „Beim Teufel. ” Und auch: „Jedes Projekt ist ein Fragezeichen. Wir sind der Punkt unter dem Fragezeichen und müssen versuchen, daß wir davon nicht erdrückt werden. ”

Erste Frage also: Warum „Pola X”, obwohl keine der Figuren so heißt? Weil das die Anfangsbuchstaben des Titels der französischen Übersetzung von Herman Melvilles Roman „Pierre or the Ambiguities” sind, auf den sich Carax hier seinen Reim zu machen versucht. Zweite Frage: Worum geht es? Um einen jungen Dichter (Guillaume Depardieu), der mit seiner Mutter (Catherine Deneuve) in einem Schloß in der Normandie lebt und kurz vor der Heirat steht, als ein Mädchen (Katerina Golubeva) des Weges kommt, das behauptet, seine Schwester zu sein. Woraufhin er Familie, Freunde, Verlobte verläßt, um mit ihr und seinen Gespenstern zu leben. So versinkt der Film in zunehmender Düsternis, wo Lüge und Wahrheit, Glaube und Wirklichkeit nur noch schwer zu trennen sind.

Als Schauplatz hat sich Carax kurioserweise ebenfalls solche aufgelassenen Industrieanlagen ausgesucht, die auch bei Kleinert als Ausdruck des persönlichen Verfalls benutzt werden. Gegen die zunehmende Glätte der Welt setzen sie den Rost, der die Oberflächen aufplatzen läßt. Carax ist mit „Pola X” wieder ein mißratenes Meisterwerk gelungen, daß wie „Pont-Neuf” von dem Mut lebt, Teile zusammenzuschweißen, die nicht zusammengehören. Dadurch entstehen Bilder und Rhythmen, die im heutigen Kino ihresgleichen suchen. Europa wird darin zu einem Märchenland, das aus sanften Wiesen und düsteren Wäldern, finsteren Ecken und berückenden Idyllen besteht. Und aus dem Osten dieses Kontinents kommt die Schwester, womöglich aus Bosnien, wo sich auch Carax in den Jahren seiner Abwesenheit zeitweise aufgehalten haben soll.
Womit der Film bei den Forderungen des Tages wäre, wonach sich das Kino auf die ein oder andere Weise mit dem Krieg auseinanderzusetzen habe. Denn natürlich ist das Auftauchen jener abgerissenen Frau, die nur noch in Bruchstücken von ihrer Vergangenheit reden kann, kein schechtes Bild für das, was in Europa gerade passiert: Auch da sind Leute auf der Flucht, die uns plötzlich an eine frühere geschwisterliche Koexistenz erinnern. Und „Pola X” erzählt von einem, der bereit ist, die Hand zu reichen – um den Preis von Wahnsinn und Tod. Der Film ist – das muß man so sagen – ein Wunder und als solches auch genauso verstörend.

In Cannes hat man erstmal andere Probleme. Vor dem Palais demonstriert das Krankenhauspersonal mit Trillerpfeifen und fordert den überfälligen Bau eines neuen Krankenhauses: Hospital statt Festival. Das sind wenigstens klare Alternativen.

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