15. Mai 1999 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1999 (5)

Die Palme bringt nicht mehr das Gold

Zwar regiert in Cannes noch der Film, aber die Geschäfte werden inzwischen anderswo gemacht

Cannes, 14. Mai – Wenn in Cannes Filmfestival ist, dann ist der Strandboulevard, die sogenannte Croisette, vom Festivalpalais an den großen Hotels vorbei bis zum Ortsausgang mit riesigen Filmplakaten zugepflastert – so wie die Branchenblätter mit den großen Farbanzeigen, die ebenfalls um die Aufmerksamkeit der potentiellen Zuschauer buhlen. Das ist zunächst bei einem Filmfestival nicht weiter verwunderlich. Schließlich geht es in diesem Gewerbe, ob in Cannes oder sonstwo, ums Sehen und Gesehenwerden.

Was den Laien jedoch verblüffen dürfte, ist die Tatsache, daß die Mehrheit dieser beworbenen Filme erstens nicht auf dem Festival gezeigt werden und zweitens noch gar nicht existieren. Manches dieser Projekte wird es auch überhaupt nie geben. Geworben wird mit Regisseuren, die nur ihr Interesse bekundet haben, und mit Stars, die noch nicht unterschrieben haben, für Filme, die noch eine Finanzierung suchen. Die meisten dieser Filme werden überhaupt nie in einem Kino gezeigt werden, sondern direkt im Videogeschäft oder im Fernsehen landen.

Genau aus diesem Grund aber fühlt sich die Branche in Cannes so wohl; auf keinem anderen Festival liegen die Höhen und Niederungen des Geschäfts in dieser Massierung so nah beieinander wie hier. Im Grunde ähnelt das Festival einem Eisberg: Was im Wettbewerb gezeigt wird, ist nur die kleine Spitze dessen, was unter der Oberfläche im Filmmarkt, dem „Marché International du Film” (MIF), gehandelt wird und nie das Scheinwerferlicht irgendeines Festivals erblicken wird.

Trotzdem meldet das Festival einen neuen Rekord für dieses Jahr: Über 5000 Teilnehmer treiben sich auf dem MIF herum auf der Suche nach Käufern für die eigenen Filme oder nach Filmen, die sie selbst kaufen können. Das ist die Welt, wo Verträge noch beim Mittagessen auf Tischtüchern entworfen werden, aber sie ist genauso auf dem Rückzug wie die Stripper-Bars in Las Vegas, die den Casino-Erlebniswelten weichen müssen, oder die kleinen Stadtteilkinos den Multiplexen. Denn hier wie anderswo in der Unterhaltungsbranche drängt alles zu Konzentration, Massierung, Globalisierung. Family-Entertainment auf höchstem Niveau ist das Geschäft der Zukunft, und da können nur noch die ganz großen Konzerne mithalten. Für den Rest bleiben nur noch die Brotkrumen.

Deswegen darf man ruhig sagen, daß das wahre Ereignis des Weltkinos dieser Tage kaum der Wettbewerb um die Goldene Palme von Cannes ist, sondern der Amerika-Start von George Lucas Star Wars, Fortsetzung Episode I – The Phantom Menace in der nächsten Woche. Dort wird richtig Geld gemacht. Allein der Film wird mindestens eine Milliarde Dollar einspielen, und die ganzen Produkte, die damit zusammenhängen, nochmal ein Vielfaches. Wenn weltweit etwa 15 Milliarden Dollar jährlich ins Filmgeschäft investiert werden, dann ist das schon ein großes Stück vom Kuchen. Der Kampf der Stars um eine Palme in Cannes ist also nur ein kleines Gemetzel verglichen mit dem riesigen Krieg der Sterne.
Man muß gar nicht nach Cannes fahren, um eine Vorstellung davon zu bekommen, wie sich die Spitze des Geschäfts zu ihrem Unterbau verhält. In Amerika werden jährlich etwa 750 Filme produziert, davon schafft es vielleicht ein Drittel ins Kino, und davon spielt nur ein gutes Dutzend mehr als 100 Millionen Dollar ein. In Europa werden sogar noch mehr Filme produziert, davon landen noch weniger im Kino, und die internationalen Erfolge kann man an einer Hand abzählen: Das Leben ist schön (Italien), Ganz oder gar nicht (England) oder Das fünfte Element (Frankreich).

Unter den deutschen Erfolgen haben weder Lola rennt noch Der bewegte Mann den Sprung auf den Weltmarkt wirklich geschafft; gleiches gilt aber auch für italienische, französische oder spanische Erfolgsfilme. Ihre Rentabilität entscheidet sich im eigenen Land und nirgendwo sonst – alles andere wäre ein Wunder.

In Cannes läßt man sich von solchen Aussichten nicht beirren und setzt tapfer auf die Namen eines Kinos, das nicht vom Geld allein sich nährt, auf Regisseure, die dem großen Publikum wenig sagen, aber die Kenner begeistern: Leos Carax, Pedro Almodovar, Jim Jarmusch, Takeshi Kitano, David Lynch, Atom Egoyan, John Sayles, Peter Greenaway oder Chen Kaige. Der Festivalchef Gilles Jacob macht das nicht unbedingt, weil die Amerikaner kein Interesse hätten, sich so einem Wettbewerb zu stellen, sondern weil er der in Frankreich mehr als anderswo verbreiteten Meinung ist, daß das Weltkino sich immer nur vom Rande her erneuern kann.

Nur dort hat der Film noch die Freiheit, neue Ausdrucksformen zu entdecken. In Hollywood hingegen werden die Filme mehr und mehr zu Erfüllungsgehilfen ihrer Marketing- und Merchandising-Strategien. Wenn man auf Star Wars blickt, dann hat man den Eindruck, daß der Film selbst schon vor seinem Start unter einem gewaltigen Schuttberg von Spielzeug, T-Shirts, Cola-Bechern und anderem Krempel begraben liegt. Das Ereignis frißt seinen Auslöser. Im Festivalpalais von Cannes regiert hingegen immer noch der Film – auch wenn die wahren Geschäfte anderswo gemacht werden.

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