20. Mai 1998 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1998 (3)

51. Filmfestspiele von Cannes

Schuld und Söhne

Die Dekadenz der Disziplin: Filme aus Dänemark, Italien, Amerika

Es ist etwas faul im Staate Dänemark: Eine Gruppe von Regisseuren hat 1995 in Kopenhagen ein Manifest unterzeichnet, in dem zehn Regeln für Filmemacher postuliert werden, deren Einhaltung die Unterzeichner feierlich schwören. Darunter gibt es spezifische Vorschriften die Herstellung betreffend: Es muß on location gedreht werden, mit Handkamera, in Farbe und 35 mm, ohne zusätzliche Lichtquellen und ohne nachträgliche Vertonung. Und es gibt allgemeinere Regeln, wonach Genrefilme nicht akzeptabel seien, oberflächliche Action – das heißt: Morde und Waffen – nicht vorkommen sollen, und der Regisseur – Regel Nummer 10 – nicht genannt werden darf.

Im übrigen schwören die Regisseure jeder Art dem persönlichen Geschmack ab: Sie seien nicht mehr länger Künstler, sondern nur noch dem höheren Ziel verpflichtet, ihren Figuren die Wahrheit zu entreißen. Die Verkünder von DOGMA 95 sind Lars von Trier und Thomas Vinterberg, und die Resultate ihres cinema verité laufen in Cannes, zuerst „Festen” („Das Fest”), dessen Plakat nicht den Regisseur Vinterberg erwähnt, sondern schlicht verkündet: „Dogma Nummer 1”. Ungeachtet der Frage, wie ernst die Sache zu nehmen sei, können die Dogmatiker also einen ersten Erfolg verbuchen: In Cannes spielt man mit.

„Festen” erzählt von der Familienfeier zum 60. Geburtstag des Oberhauptes. Die Feier nimmt immer wüstere Züge an, nachdem der älteste Sohn beim Toast die versammelte Verwandtschaft darüber aufklärt, wie der Vater einst ihn und seine Schwester, die sich später umbrachte, regelmäßig mißbraucht hat. Die Ungerührtheit, mit der sich der Wahnwitz nach und nach Bahn bricht, erinnert nicht nur an Triers Krankenhaus-Serie „Kingdom”, sondern auch an die Filme von Luis Buñuel, der den Tabubruch auch gern als Gesellschaftsspiel inszenierte.

Der Geist der Surrealisten schwebt ohnehin über DOGMA 95, weil deren Manifest damals mit dem gleichen heiligen Ernst vorgetragen worden ist. Wer allerdings weiß, daß André Breton keinen Spaß kannte, wenn es um die Einhaltung der Regeln ging, fragt sich, wie lange es dauert, bis die Dänen das erste Ausschlußverfahren gegen einen der ihren einleiten. Fürs erste gefällt sich Vinterberg noch darin, seinem Presseheft ein Geständnis anzufügen, in dem er beichtet, gegen welche Regeln er bei „Festen” verstoßen hat: In einer Einstellung habe er ein Fenster verhängt und damit die Wirklichkeit verändert; außerdem habe eine Figur ein Handy benutzt, das nicht das eigene war; und obendrein habe er einen Empfangstisch bauen lassen, für den allerdings nur Materialien verwendet worden seien, die am Drehort bereits vorhanden waren. Ansonsten habe er sich an den Schwur gehalten – und erbitte deshalb Absolution. Offenbar wurde sie erteilt.
Der spielerische Ernst, mit dem die Dänen ihr Manifest durchziehen, ist nicht so abwegig. Schließlich haben der Schlachtruf der Nouvelle Vague, wonach Papas Kino tot sei, oder das Oberhausener Manifest das Kino einst auch verändert – so lachhaft sie für die meisten auch geklungen haben mögen.

Hier geht es nun gegen das Autorenkino, von dem sie sagen, es sei bürgerlich geworden, weil seine Theorien auf bürgerlichen Kunstvorstellungen gründeten. Sie fordern: Schluß mit Illusion, Pathos, Romantizismus. Das sei alles nur Kosmetik und Dekadenz. Im Zuge der technologischen Veränderungen, die über kurz oder lang jedem das Filmemachen ermöglichen, sei es an der Zeit, eine neue Avantgarde auszurufen. Nur mit Disziplin könne man gegen die Dekadenz vorgehen, und deshalb müßten die Filme in Uniformen gesteckt werden, um den Individualismus zu bekämpfen. Daß die Wirksamkeit der Dogmen angesichts von „Festen” angezweifelt werden kann, muß die Dänen nicht beirren: In ihrer Welt kann es nur eine Wahrheit geben.

Um Väter, Macht und Mißbrauch geht es auch anderswo: Wo in „Festen” die erwachsenen Kinder rebellieren, da floh in Claude Millers „La classe de neige” der mißbrauchte Junge in die Phantasie, um mit dem Vater abzurechnen. Wenn man so will, geht Todd Solondz, dessen Film mit dem hämischen Titel „Happiness” das bisherige Ereignis der Nebenreihe Quinzaine war, noch weiter: Er wirft auf den Vater, der sich an einem Freund seines Sohnes vergeht, denselben ungerührten Blick des Insektenforschers, mit dem er auch alle anderen Figuren seziert.

Es geht dabei um drei Schwestern aus New Jersey und um all die Menschen, mit denen sie im Kontakt kommen. Irgendwie hängen in kürzester Zeit alle mit allen zusammen, und verbunden sind sie ohnehin durch ihre Suche nach „Happiness”, nach Glück in der Liebe oder sonstwo. Wo Solondz anfangs einfach eine Anekdote an die andere zu hängen scheint (und alle dem Bilderbuch des Analytikers entsprungen zu sein scheinen), da zieht er nach und nach die Schraube in seinem Netz von Geschichten immer fester: Die Schicksale beginnen sich zu verstricken und die Perversionen zeichnen sich immer deutlicher ab. So unbehaglich hat man sich beim Lachen im Kino noch selten gefühlt.

Gerade im Vergleich mit „Happiness” fällt Mimmo Caloprestis „La parola amore esiste” umso deutlicher ab. Seine Geschichte von den Neurosen eines Mädchens aus gutem Hause, gespielt von der wunderbaren Valeria Bruni-Tedeschi, bleibt immer an der Oberfläche psychoanalytischer Erklärungs- und Erzählmuster, die Solondz so weit hinter sich läßt.

Nanni Moretti, übrigens Produzent von Caloprestis Erstling „La seconda volta”, betreibt das Filmemachen ohnehin als Therapie und ist wie zuletzt in „Caro diario” Patient und Analytiker zugleich. „Aprile” ist wieder eine Art filmisches Tagebuch, das mit Berlusconis Sieg 1994 beginnt und Morettis Bemühungen zeigt, der Sache als Filmemacher irgendwie beizukommen. Ein Musical rund um einen Bäcker bricht am ersten Drehtag ab, und so vergeht die Zeit mit mehr oder minder ziellosen dokumentarischen Versuchen, bei denen wir Berlusconi wieder stürzen und die Linken siegen sehen.
Wobei eben jene Versuche, der Wirklichkeit beizukommen, die zahllosen halbherzigen Ansätze und bald verworfenen Pläne bereits die ganze Geschichte erzählen. Zumal Morettis Ambitionen vom politischen Filmemachen ohnehin privaten Erfahrungen unterworfen sind. Wo die anderen Filme sich mit Vatermord befassen, ist Moretti vollauf damit beschäftigt, selbst erst einmal Vater zu werden. Schwangerschaft und Geburtsvorbereitungen bringen den hoffnungslosen Egozentriker völlig außer Rand und Band und er hat seinen Kopf überall, nur nicht beim Filmemachen. Daß genau daraus der Film entsteht, ist der Witz der Sache.

In Cannes ist das im Grunde nicht anders: Daß aus all dem hektischen Durcheinander auf und an der Croisette irgendwann tatsächlich Filme entstehen sollen, ist geradezu ein Wunder. Aber genau das ist der Witz dieses Festivals.

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