12. Mai 1997 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Cannes | Cannes 1997 (5)

50. Filmfestival von Cannes

Die Augen von Isabelle A.

Vom Planeten Hollywood zur Sonne über der Riviera: Zum Jubiläum ist in Cannes der Teufel los

Die Augen von Isabelle Adjani sind überall. Das Gesicht der Sphinx, das ewige Jugend verheißt, blickt traumverloren aus fast jedem Schaufenster an der Croisette, tausendfach – bis die Erinnerung an ihre Filme sich verflüchtigt wie Nebel in der Sonne. Hier ist Isabelle Adjani kein Versprechen mehr auf Filme, die ihr Gesicht noch erzählen könnte, sondern sie ist als Jury-Präsidentin das Covergirl dieses Jubiläums. Aber sie schießt zurück mit Schnappschüssen.

In Libération erscheint jeden Tag ein Photo, das die Adjani mit ihrer Kamera gemacht hat, Momentaufnahmen aus dem Leben der Jury-Präsidentin, die dem Festival sozusagen den Spiegel vorhält, indem sie die Blicke der Leute von sich ab und auf anderes lenkt: ein Blick aus ihrem Hotelfenster im Carlton auf die Brandung; eine Einlaßkarte zu einer Veranstaltung namens Angels on High; die Ordnungskräfte, die ihren Weg zur Pressekonferenz säumen; ihre chinesische Kollegin Gong Li, die mit aufgeplusterten Backen ihren Co-Juror Mike Leigh nachäfft.

Nicht daß man wirklich Unerhörtes zu sehen bekäme, macht diese Bilder so interessant, sondern daß die Schauspielerin auf diese Weise die Imagination der Leute zurückerobert. Denn unwillkürlich beginnt die Vorstellungskraft des Betrachters zu arbeiten und Fragen zu stellen: Wer steckt hinter den Bildern? Und so gewinnt der Star wieder sein Geheimnis zurück.
Der Regisseur Leos Carax ist auch jemand, der seine Geheimnisse zu wahren weiß. Seit Die Liebenden von Pont-Neuf hat man von ihm nur gehört, daß er seinen neuen Film Pola X vorbereitet. Jetzt hat er auf Einladung des Festivalchefs Gilles Jacob zur Eröffnung der Reihe Un certain regard eine achtminütige Grußadresse geschickt, eine Postkarte aus einer Art Parallelwelt, in der das Festival nur von Geistern und Phantomen bevölkert ist.

Es beginnt mit einem ohrenbetäubenden Applaus, zu dem eine Armee von Schatten die Stufen zum Palais emporsteigt. Dazu hat Carax die Bilder vom Defilee der Stars ins Negativ gekehrt, sozusagen die Kehrseite des täglichen Aufmarschs auf der Treppe gezeigt, deren Stufen sich über andere Filmausschnitte ins Unendliche verlängern. Die Treppensteiger treten jedenfalls buchstäblich einen Sturm los, eine Kette von Naturkatastrophen, die schließlich alles Leben in einem Lava-Strom mit sich reißen. Und wenn man dann den Regisseur selbst auf seinem Bett schlafen sieht, während riesige Seifenblasen wie Träume über seinem Kopf schweben, dann verdichtet sich das alles zu dem Eindruck, das Kino sei auch nichts anderes als eine Seifenblase, die das Toben der Naturgewalten und menschlichen Emotionen mit einem flüchtigen Schillern verdeckt.
Was besonders Cannes zum Schillern bringt, sind die Auftritte von erdfernen Satelliten des Kinos wie Michael Jackson oder Claudia Schiffer, die auf der Oberfläche der Croisette kurz Wellen schlagen, um dann in der Flut der Filme zu versinken. Oder Bruce Willis, der seinen Auftritt als Star von Luc Bessons Das fünfte Element nutzt, um Werbung zu machen für das in Palais-Nähe eröffnete Restaurant der Kette Planet Hollywood, die er mit Kollegen betreibt. Für die drei Millionen Dollar, die allein das Premierenfest zu Bessons Spektakel gekostet hat, hätten jedenfalls die meisten Filme der diversen Nebenreihen produziert werden können. Da liegen Welten dazwischen, aber wenn es etwas gibt, was Cannes auszeichnet, dann das Gefühl, daß sie hier unter der Sonne der Riviera irgendwie um denselben Mittelpunkt kreisen.

Un certain regard, das ist ein bestimmter Blick auf die Welt, vielleicht zu speziell für den großen Wettbewerb, in dessen Schatten diese Reihe stattfindet. Rob Tregenza war amerikanischer Verleiher von Godard, ehe er sich mit Inside/Out hinter die Kamera begeben hat. Als er Godard für seinen Erstling um Rat gefragt hat, soll der ihm 100 000 Dollar und die amerikanischen Rechte an Forever Mozart geboten haben. Jedenfalls wurde ein Teil der Postproduktion bei Godard in Rolle gemacht, und zwei Hauptdarsteller kommen aus seinen Reihen. Wie häufig in solchen Fällen bemüht man sich jedoch vergeblich, im Film des Schülers die Echos des Meisters wiederzufinden. Tregenza veranstaltet in Schwarzweiß und Cinemascope eine Pantomime in einem Irrenhaus, in der natürlich sehr bald die Perspektive verrückt wird. Aber dieser in langen, kunstvoll komponierten Einstellungen beinahe erstarrende Film hat sonst mit Godard wenig zu tun: Denn den interessiert nur noch, was zwischen den Bildern stattfindet; was passiert, wenn man eins und eins zusammenzählt. Zu welchen Ergebnissen Godard dabei kommt, wird man in den beiden Kapiteln der Histoire(s) du cinéma erfahren, die er hier noch vorstellt.

Manchmal zeichnen sich die Filme dieser Reihe nicht unbedingt durch stilistische Besonderheiten aus, sondern durch einen ganz speziellen geographischen Blick. Robert Guediguian ist im Marseiller Arbeiterviertel Estaque aufgewachsen und hat nun schon seinen siebten Film über dessen Bewohner und deren Probleme gedreht. Wie genau er dabei den Geist der Gegend einfängt, konnte man erleben, als sich nach der Vorführung von Marius et Jeannette Team und Publikum buchstäblich weinend in den Armen lagen.

Guediguian erzählt eine Liebesgeschichte unter Erwachsenen, die ohne die Träume und Illusionen der Jugend auskommt, aber um so mehr zu Herzen geht. Jeannette ist eine vorlaute Kassiererin im Supermarkt, die alleine zwei Kinder aufzieht, Marius ist Aufseher einer aufgelassenen Zementfabrik. So verbinden sich in der Geschichte zwangsläufig die emotionalen Bewegungen mit sozialer Beschreibung.

Manchmal gefällt sich der Film allzusehr im Idyll, das er dem Milieu abgewinnt – er kann sich jedoch immer auf die Lebendigkeit seiner Hauptdarsteller Ariane Ascaride und Gerard Meylan verlassen, die das Allzugefällige mit ihrer Präsenz unterwandern. Guediguian weigert sich eben, dem Erzählen ein Korsett zu verpassen oder das Leben in Geschichten zu zwängen. Das ist, wenn man an die Dutzendware denkt, die in den Branchenblättern tausendfach feilgeboten wird, gerade hier in Cannes eine ziemlich seltene Tugend.

Schreibe einen Kommentar

Ihre E-Mailadresse wird nicht öffentlich angezeigt. Pflichtfelder sind mit * markiert. Mit Absenden Ihres Kommentars werden Ihre Einträge in unserer Datenbank gespeichert. Weitere Informationen finden Sie in unserer » Datenschutzerklärung


siebzehn + 6 =