16. Februar 2001 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Berlinale | Berlinale 2001 (4)

Der doppelte Patrice

Berlinale II: Zwei Franzosen im Wettbewerb, so unterschiedlich wie Tag und Nacht – Chéreau und Leconte

Vielleicht erinnert sich noch jemand: Es gab eine Zeit, da war Sex im Kino mehr als nur ein Thema, an dem sich Debatten entzünden. Denn damals – sagen wir mal Mitte der Siebziger Jahre – war Sex eine Selbstverständlichkeit, von der Filme zu erzählen Lust hatten. Auch damals wurde über den LETZTEN TANGO oder über DAS REICH DER SINNE diskutiert, aber besonders im Rückblick hat man den Eindruck, dass in den Siebzigern eine andere Körperlichkeit am Werk war. Und es liegt nicht nur an Aids, dass den Leuten der Spaß vergangen ist, sondern am allgemeinen Siegeszug des amerikanischen Kinos, das sein Publikum auf einen seltsamen Mix von Familienfreundlichkeit und Gewaltphantasien einschwor. So oder so ist Sex aus dem Kino verschwunden.

Um so aufregender wirkt es, wenn man in Patrice Chéreaus erstem englischen Film INTIMACY plötzlich zwei Leuten (Mark Rylance und Kerry Fox) in einer Ausführlichkeit bei der Liebe zusehen kann, die sich im Unterschied zu Filmen wie ROMANCE oder BAISE-MOI sichtlich selbst genügt. Dass man dabei auch Geschlechtsteile sieht, wirkt endlich mal nicht als gezielte Provokation, sondern als Teil jener Natürlichkeit, die der Sache eben innewohnt. Zum ersten Mal hat man den Eindruck, dass das Kino nicht hinter Positionen zurückfällt, die es schon vor einem Vierteljahrhundert erobert hatte.

Eine Frau besucht einen Mann in einer heruntergekommenen Londoner Wohnung. Die beiden begegnen sich unsicher, verlegen, ausweichend. Plötzlich greift die Hand der Frau nach dem Gesicht des Mannes – eine Geste von so überraschender Zärtlichkeit, dass das Bild für Momente einzufrieren droht. Als würde auch der Kamera das Herz stehen bleiben. Dann sieht man die beiden beim Sex. Und eine Woche später wieder und wieder und wieder. Und nie wird dabei geredet. Und wie der Titel bereits nahe legt, stellt Chéreau die Frage, ob Intimität ohne Worte möglich ist und was eigentlich passiert, wenn die Liebe Teil einer Geschichte wird. Der Mann folgt der Frau – und von da an komplizieren sich die Dinge. Es kommen Erwartungen, Enttäuschungen hinzu, all jene Schwerkräfte des Lebens, die es der Liebe so schwer machen. Im Falle Chéreaus heißt das auch: all jene theatralischen Situationen, die seine Filme sonst so beschweren. Das ändert aber nichts daran, dass INTIMACY von einer Reife, Kühnheit und Intimität eben ist, die selbst TRAFFIC irgendwie steril aussehen lassen.

Hinterher auf der Pressekonferenz das Übliche: Ob er bei den Sexszenen daran gedacht habe, dass er deshalb trotz der englischen Sprache auf den amerikanischen Markt verzichten muss. Idiotische Frage. Kann nur von einem Amerikaner kommen. Dann eine andere Frage auf deutsch: Was sein Konzept gewesen sei? Und Chéreau beantwortet sie auch auf deutsch: Das sei eine typisch deutsche Frage. Schon bei seinen Wagner-Inszenierungen in Bayreuth hätten ihn alle immer wieder gefragt, was sein Konzept sei. Und tatsächlich lässt sich sagen, dass es ein Problem des deutschen Films – aber auch des Weltkinos – ist, dass ohne Konzept nichts mehr zu gehen scheint. Genau das nimmt den Filmen aber ihre Körperlichkeit. Und deshalb ist Chéreaus Film so ein Ereignis.

Patrice Lecontes Konzept bei FÉLIX ET LOLA war offenbar, nach dem extrem stilisierten Messerwerfer-Film DIE FRAU AUF DER BRÜCKE einen Rummelplatz-Film zu machen, der zur Abwechslung ganz lebensnah ist. Ein Fahrgeschäftbetreiber (Philippe Torreton) und eine Herumtreiberin (Charlotte Gainsbourg) verlieben sich, aber die Frau scheint Geheimnisse zu haben und der Mann leidet darunter. Mehr passiert nicht – aber das mit fortwährend großer und also hohler Geste in Szene gesetzt. Der Film bettelt fortwährend darum, dass man ihm die große Liebe abnimmt – das ist als Konzept etwas dürftig.

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