21. Februar 1998 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Berlinale | Berlinale 1998 (2)

48. Internationale Filmfestspiele in Berlin

Das Leben ist kein Kino

Dokumentation im Forum: Dominique Cabrera und die Taverniers

Alles begann mit einem Brief, den der französische Minister für Stadt und Integration, Eric Raoult, im Februar 1997 an 66 Filmemacher seines Landes schickte, die zu zivilem Ungehorsam gegen das neue Ausländergesetz, die sogenannte loi Debré, aufgerufen hatten. Der Minister empfahl den Filmern, sie sollten mal einen Monat in einem Problemviertel wie Grands Pêcheurs verbringen, dann würden sie begreifen, daß die Integration von Einwanderern mit Kino nichts zu tun hat. Die Angelegenheit, meinte der Minister wohl, sei ernster, als es sich ein paar aufsässige Künstler vorstellen können, und komplexer, als es sich das Kino träumen ließe.

Da hatte sich Monsieur le Ministre die Filmemacher allerdings unterschätzt. Bertrand Tavernier und sein Sohn Nils nahmen ihn beim Wort und fuhren mit der Kamera in die Cité des Grands Pêcheurs nach Montreuil, eine Sozialbauwüste jenseits der Pariser Stadtautobahn. De l’autre côte du périph’ ist das Ergebnis einer dreimonatigen Erkundung dieser Gegend, die vielleicht so häßlich ist wie ihr Ruf, deren Bewohner aber einen Stolz haben, der alle Vorurteile Lügen straft. Die zweieinhalbstündige Dokumentation, die vergangenen Dezember in zwei Teilen auf France 2 ausgestrahlt wurde und enorme Solidaritätsbekundungen nach sich gezogen hatte, besteht aus zahllosen Gesprächen, die zusammen eine Art oral geography der Pariser Vorstädte ergeben. Gegen die Legende von der Unbewohnbarkeit dieser Viertel, die von den Politikern gefördert, wenn nicht gar gewollt wird, setzt der Film das Bild von einer Nachbarschaft, die nicht nur durch ihren Überlebenswillen zusammengehalten wird. Einmal erzählt ein junger Mann, daß er mal in Paris gewohnt und es nicht ausgehalten habe, weil die Leute nicht miteinander reden würden und den Blick immer starr auf den Boden gerichtet hätten.

Weil das Thema ernst ist, enthält sich Tavernier aller formalen Spielereien. Nur einmal erzählt er aus dem Off, einer seiner Gesprächspartner, den er besonders liebgewonnen hatte, sei mittlerweile gestorben. Eigentlich sei jetzt eine Schweigeminute fällig, auf die er jedoch verzichte, weil im Fernsehen dann jeder weiterzappen würde. Deshalb zeige er statt dessen eine Minute Leben – und man sieht Kinder.

Man solle keine politischen Filme, sondern Filme politisch machen, hat Godard mal gesagt. Und auch wenn er das vielleicht anders gemeint, als es Tavernier verstanden hat, so ist das doch ein Beispiel für die soziale Verantwortung von Filmemachern, das auch bei uns Schule machen sollte. Um die deutschen Regisseure daran zu erinnern, sagte Forums-Chef Ulrich Gregor nach der Vorführung, habe er den Film ins Programm genommen. Immerhin, könnte man sagen, sind bei uns gerade sechs Spots zum Thema innere Sicherheit für die Lichterkette entstanden – unter anderem von Caroline Link, Doris Dörrie und Dominik Graf. Ein Anfang.

Zu den 66 Unterzeichnern gegen die loi Debré gehörte auch Dominique Cabrera, die sogar in Montreuil geboren ist. Ihr Demain et encore demain (Journal 1995) ist ein filmisches Tagebuch, das nur auf den ersten Blick das Private gegen die Politik setzt. Einmal begleitet sie Mitterands letzten Auftritt im Elysée-Palast, ein andermal filmt sie bei einer Wahlveranstaltung der Front National und fragt sich, was sie von den anderen Gesichtern in dieser Menge unterscheidet. Für jemanden, der unter Depressionen leidet, keine leichte Frage.

Ein Jahr lang hat sie mit der Videokamera Buch geführt und die 120 Stunden Material monatlich gesichtet, um dann die acht verbliebenen Stunden auf 80 Minuten zu kürzen: das Auf und Ab des Lebens, der Liebe, der Seele. Im Unterschied zu den Taverniers vertraut sie neben den Gesprächen mit Familie und Freunden auf das, was die Kamera an Stimmungen einfangen kann. Wo beim geschriebenen Tagebuch die inneren Strömungen festgehalten werden können, kann das filmische Journal nur die Außenhaut des Lebens abbilden. Aber wie Dominique Cabrera hier den Traum vom camera-stylo, von der mit der Beiläufigkeit eines Stifts benutzten Kamera, verwirklicht, ist so schlüssig wie ergreifend. Man sieht den Sonnenaufgang über den Dächern, die Hagelkörner in den Blumentöpfen auf dem Fensterbrett, den Schlaf des Geliebten am Morgen – und erkennt dahinter die geradezu therapeutische Möglichkeit, mit so einem Projekt Ordnung ins Leben zu bringen. Und das ist nicht nur für jemanden mit Depressionen ein großes Glück.

Nach der Vorstellung sagte Dominique Cabrera, das Erstaunlichste sei die Erfahrung gewesen, daß Momente, die sie beim ersten Mal mit der Kamera verpaßt hat, nie für immer verloren gewesen sind – auf die ein oder andere Weise hätten sie sich alle irgendwann wiederholt. Das ist eine tröstliche, aber auch irgendwie deprimierende Einsicht. In jedem Fall ist es nicht nur eine private, sondern auch eine politische Erkenntnis.

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