16. Februar 1993 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Berlinale | Berlinale 1993 (3)

Liebe und Freitod

Bei den ersten Filmen des Wettbewerbs überzeugte vor allem Doillons 'Le jeune Werther'

Man hört einen Schrei, und die Leinwand fällt herab. Die Zuschauer schreien entsetzt auf, denn dahinter baumelt die Leiche eines Selbstmörders. Ein Tod im Kino, wörtlich genommen von dem rumänischen Regisseur Mircea Daneliuc in Das Ehebett.

Ein Auto steht im morgendlichen Wald. Über Nacht hat der Schnee begonnen, die Scheiben zu bedecken. Dahinter sitzt eine junge Frau. Sie hat sich mit Tabletten umgebracht im dänischen Film Der Liebesschmerz von Nils Malmros.
Ein Schüler wird aus seiner Klasse geholt. Die Schwester seines Freundes wartet auf ihn, der Direktor stellt ihm behutsam Fragen. Was los ist, will der Junge wissen. Sein Freund habe sich vergangene Nacht umgebracht, heißt es in Jacques Doillons Film Der junge Werther.

Selbstmord steht auf dem Programm des diesjährigen Wettbewerbs der Berlinale, drei Beiträge haben schon den Freitod als Auflösung ihrer Geschichten gewählt. Im Reich der Identifikation ist das immer noch die radikalste Wahl, ein Angriff aufs Vertrauen des Zuschauers. Man muß das nicht gleich als Symptom begreifen, um zu sehen, daß das Kino in einer Grenzsituation ist, wo Reaktionen gefragt sind. Nach den Umwälzungen der vergangenen Jahre wollen die Filme Schritt halten, wollen reagieren. Und wo offene Enden nicht erwünscht sind, da ist der Freitod allemal eine saubere Lösung. Aber vielleicht geht das schon zu weit.

Die Wettbewerbe der Festivals sind wie öffentlich-rechtliche Anstalten: Dinosaurier in einem Klima, das längst andere Lebensformen bevorzugt. Es gibt eigentlich keinen anderen Grund, ihnen mehr Aufmerksamkeit als den anderen Formen zu schenken, es sei denn Tradition und Sentimentalität. In den Sektionen von Forum und Panorama laufen mindestens genauso viele wettbewerbsfähige und -würdige Filme wie im Wettbewerb selbst, und manchmal fragt man sich, warum eigentlich Filme von Sergei Bodrow und Vera Chytilova, Atom Egoyan und Jon Jost, Otar Iosseliani und Tsui Hark unbedingt in Nebenreihen laufen müssen. Eigentlich fragt man sich das um so öfter, je unentschiedener das Wettbewerbsprogramm ist. Warum kann sich nicht mal ein Festivalchef hervortun durch einen eigenen Geschmack, eine eigene Handschrift?
Natürlich war das Ereignis der ersten Tage Jacques Doillons Le jeune Werther, ein weiteres seiner zarten Wunder im Schatten junger Mädchenblüte. Der Franzose hat Goethe natürlich nicht verfilmt, sondern sich seinen Reim darauf gemacht. Sein Held ist folglich auch nicht Werther, sondern ein hinterbliebener Freund. Guillaume ist durch seinen Tod allerdings zum stillen Zentrum des Films geworden, um das die Geschichte und ihre Hauptdarsteller kreisen.

Guillaumes Klasse stellt Fragen, sucht nach Gründen, macht sich Vorwürfe. Wie von einem Stein, der ins Wasser gefallen ist, bleibt vom Toten nichts übrig als die Wellen, die sich durch den Freundeskreis ausbreiten. Besonders der Freund Ismael versenkt sich in die Trauerarbeit, verliert sich erst im Mitleid, um sich dann selbst zu finden. Er bildet sich ein, ein blondes Mädchen von gegenüber sei Guillaumes unerfüllte Liebe gewesen, und beginnt, sie zu verfolgen. Auch am Ende wird er ihr noch folgen, aber diesmal nicht verliebt in den Tod, sondern in die Liebe.

Doillons Souveränität, die mit der Kamera inmitten der Schüler von einer Unterhaltung zur nächsten tanzt, sucht man in den anderen Beiträgen vergeblich. Besonders Danny De Vito ringt in Hoffa, einer Biographie des gleichnamigen amerikanischen Gewerkschaftlers, um ähnliche Kontrolle. Aber je exzentrischer sein Blick auf Hoffa (Jack Nicholson) ausfällt, desto distanzierter wirkt sein Film. In der Geschichte um die feinen Unterschiede von Courage und Korruption setzt er auf grelle Töne, die wirkungslos verhallen.

Grell ist auch das Bild, das Mircea Daneliuc in Patul Conjugal (Das Ehebett) von den Zuständen im Rumänien nach Ceausescu malt. Rund um den Manager eines Kinos wird ein so gnadenloser Ausverkauf einer Gesellschaft inszeniert, daß einem das Lachen oft genug im Halse steckenbleibt. Es wird gehandelt und geschachert, verkauft und prostituiert, was das Zeug hält. Alles ist in Auflösung begriffen, der Film selbst auch. Einmal wird sogar so getan, als sei der Film aus dem Projektor gesprungen, und ein Insert entschuldigt die technischen Probleme. Ein schonungsloseres Bild einer Gesellschaft läßt sich kaum ausmalen; als Zuschauer bleibt einem nur noch Ratlosigkeit.

Dieselbe Reaktion ruft auf ganz andere Weise Nils Malmros‘ Kaerlighedens smerte (Der Liebesschmerz) hervor. Die Biographie eines jungen Mädchens in den Sechzigern erzählt auf so atemberaubend banale Weise vom Erwachsenwerden des behüteten Kindes, daß man geradezu sehnsüchtig auf einen Bruch wartet. Wenn er dann kommt, geschieht das mit so gnadenloser Beiläufigkeit, daß die Wirkung vernichtend ist. Das Mädchen, so stellt sich heraus, ist manisch-depressiv, und so bekommen die plumpen Szenen des Glücks einen düsteren Nachgeschmack. Es gibt weder Erklärungen noch Diagnosen, außer einem Hinweis ganz am Anfang, auch der Großvater habe sich einst umgebracht. So verwandelt sich die Banalität dieses Films nach und nach in den reinsten Terror.

Auch wenn der Film von Malmros jede Menge unfreiwillige Lacher in Kauf nimmt, wirkt er am Ende doch nachhaltiger als der amüsante spanische Beitrag Belle Epoque von Fernando Trueba. Die Geschichte eines Flüchtigen, der in den Wirren der spanischen Republik 1933 in ein Viermäderlhaus gerät, entbehrt vergleichsweise jeder Fallhöhe und reduziert sich auf die Irrungen und Wirrungen eines jungen Mannes, der einer Tochter nach der anderen verfällt.
Das Happy-End, so möchte man nach all den anderen Erfahrungen sagen, ist keine Lösung.
MICHAEL ALTHEN

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