20. Februar 1993 | Süddeutsche Zeitung | Bericht, Berlinale | Berlinale 1993 (2)

Sex, Lügen und Kino

Der Wettbewerb: Entdeckungen an den Randlagen - Enttäuschung bei den Amerikanern Barry Levinson und Spike Lee

Wir können auch anders, sagt die Berlinale. Wir können auch anders . . ., sagt Detlev Buck. Wir können auch anders, sagen seine beiden unterbelichteten Helden im umjubelten Erfolg des gleichnamigen Films. Ein Road Movie, sagt der Regisseur des deutschen Wettbewerbsbeitrags, könne man hierzulande nur mit jemandem machen, der nicht lesen kann. Alle anderen fänden unweigerlich zu schnell zum Ziel. Also fahren die beiden ungleichen Brüder Kipp und Most immer der Nase nach in den Wilden Osten, wo sie in der Nähe von Schwerin ihr Erbe antreten wollen. Daß sie dabei ungewollt eine Blutspur hinter sich herziehen, beweist nur, wie verkehrt diese Welt ist.

Als Amusement unter Niveau hat mancher sein Lachen gleich relativiert, als wäre in Gefahr und größter Not die Komödie nur ein Mittelweg. Dabei sieht man gerade auf Festivals, wieviel leichter es ist, vor Problemen die filmischen Waffen zu strecken, sich im diffusen Licht schöner Bilder oder im Dickicht konfuser Geschichten zu verstecken. Dagegen setzt Buck die verblüffende Klarheit einer einfachen Geschichte und die entwaffnende Schlichtheit seiner Helden.

Kipp ist Freigänger, Most ist Bauer. Der eine quasselt andauernd, der andere schweigt lieber. Eine Ungerührtheit zeichnet die beiden Narren aus, die vielen großen Komikern zueigen ist. Wobei vor allem Joachim Król als Kipp die reinste Schau ist, weil er wirklich aus fast nichts alles macht. Sein größtes Glück scheint in den schlimmsten Platitüden zu liegen, die er mit solcher Inbrunst von sich gibt, als hinge seine Identität davon ab. Nur ein leichtes Stottern zeugt noch von dem Bruch zwischen dem Heimbewohner und seiner angestrebten Normalität. Dabei sind er und sein Bruder im ostdeutschen Alltag, der von allerlei kapitalistischen Glücksrittern vergiftet wird, natürlich die einzig Normalen. Gerechterweise müßte Król den Schauspielerpreis bekommen.

Normalerweise werden solche Preise an Leute wie Denzel Washington vergeben, der für seine Rolle als Malcolm X auch schon für den Oscar nominiert worden ist. Als wäre die Anlehnung an Vorbilder schwieriger als die Gestaltung eigener Bilder. Natürlich entspricht Washington den Erwartungen, die man an solche Rollen stellt. Aber mehr auch nicht. Was allerdings immer noch mehr ist als das, was sein Regisseur Spike Lee zu bieten hat. Denn wenn von jemandem eine aufregend eigenständige Interpretation der Biographie des schwarzen Bürgerrechtlers zu erwarten gewesen wäre, dann von ihm. Was man stattdessen sieht, ist eine so angestrengt konventionelle Verfilmung eines Lebenslaufs, daß man sich fragt, was ihn an der Person jenseits der politischen Aussagen interessiert haben mag. Allein die Kamera versucht stellenweise, sich über die Eintönigkeit der Erzählung zu erheben, macht dadurch jedoch die Bemühtheit des Regisseurs nur noch sichtbarer.

Wenn Spike Lee an seinen Ambitionen gescheitert ist, dann ist Barry Levinson darin erstarrt. Wie Lees Malcolm X erschöpft sich sein neuer Film Toys in einer Plakativität, die alle Zwischentöne überdeckt. Die Geschichte zweier infantiler Spielzeugfabrik-Erben (Robin Williams und Joan Cusack), die von ihrem militärischen Onkel verdrängt werden, ist von einer Plumpheit, die jedes Lachen im Halse erstickt. Wo man am Anfang die Arbeiter am Fließband sich freudig im Takt wiegen sieht, da arbeiten sie später unter der Führung des Generals mechanisch im Akkord. Und statt der lieblichen Musik, die vorher die Fabrikhallen durchwehte, hört man nun den harten Rhythmus des Rap. Diese reaktionäre Verlogenheit bestimmt die Geschichte von Anfang bis Ende. Was Levinson als Glück verkaufen will, ähnelt auf so fatale Weise den Zukunftsvisionen von Huxley oder Orwell, daß der General und sein Kriegsspielzeug geradezu lebendig wirken.

Das amerikanische Kino, das die Berlinale in den letzten Jahren so spielend dominierte, ist in diesem Wettbewerb von allen guten Geistern verlassen. Ausgerechnet die beiden erfrischendsten Talente des letzten Jahrzehnts sind nun dort angelangt, wo Kritiker das Hollywood- Kino schon immer sehen: Bei der in Konvention erstickten Kunst.

Von keinerlei Konventionen gefesselt, inszeniert der Israeli Assi Dayan in Ha cha yim alpy Agfa (Das Leben nach Agfa) einen Reigen um ein Tel Aviver Nachtlokal und seine Besitzerinnen. In eine einzige Nacht wird alles gepackt, was das Leben im Allgemeinen und Israel im Besonderen an Konflikten zu bieten haben. Und so verschwenderisch, wie der Film mit dem Leben umgeht, so geht er auch mit dem Tod um. Das Blutbad, das die israelischen Soldaten am Ende in der Bar anrichten, ist so beißend sarkastisch wie blutig ernst. Es ist traurige Realität in einer Welt, in der das Leben eigentlich schon genügend Probleme bietet, um jeden einzelnen auf Trab zu halten. Zum Beispiel die Liebe, zum Beispiel der Sex.
Sex als Brennpunkt zwischen Lieben und Lügen bestimmte die europäischen Beiträge der letzten Tage. In dem norwegischen Film Telegrafisten von Erik Gustavson, einer Mittsommernachts-Sexkomödie, stiftet ein Telegraphist in einem Fischerdorf eine beträchtliche Verwirrung der Gefühle. Dabei zeichnet sich der Film durch einen so präzisen und liebevollen Sinn für das Spiel der Gesten und Blicke aus, daß er manche Ungenaurigkeit der Erzählung vergessen läßt.

Der Holländer Frans Weisz erzählt in Op afbetaling (Die Heimzahlung) von einem Mann, der seine Frau beim Ehebruch beobachtet und sich daraufhin zunehmend in seinen Rachegefühlen verfängt. Mit geduldiger Konsequenz bringt Weisz seine Konstruktion ihrem Ende zu, in dem die Liebe zum Grab wird.

Und Marco Ferreri, Sieger im vorletzten Jahr, beschreibt in Diario di un vizio Liebesfreuden und -leiden eines späten Jungen. Die schamlose Eitelkeit Ferreris häuft hier im Tagebuchstil jede Menge Banalitäten zum Porträt eines selbstgefälligen Träumers. Dem hält Detlev Buck entgegen: Wir können auch anders . . .

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