03. Juli 1997 | Süddeutsche Zeitung | Nachruf | Robert Mitchum

Der große Schlaf

Die schöne Kunst des Verlierens: Zum Tode von Robert Mitchum

Die Nacht fällt schnell über Hollywood. Einer nach dem anderen wird von ihrem Dunkel verschlungen. Nur noch ein paar stehen im fahlen Licht, nicht mehr als Schattenrisse in der Dämmerung. Die Bühne leert sich langsam, die Schweinwerfer gehen aus, und nur die Musik spielt weiter. Bald sind auf dem großen Friedhof der Erinnerung nur noch die Geister unterwegs.

Auch über Robert Mitchum ist das Licht ausgegangen, auch er ist von der Bühne abgetreten. 79 Jahre alt, Krebs. Sein letzter Film hieß: Dead Man.

Man stellt sich vor, wie sie sich am Bühnenausgang sammeln, die Krägen hochschlagen, hinausgehen in den Regen und die nächste Bar betreten. Wie sie dort im alten Glanz stehen, Witze erzählen, einen Blick hinüber zu den Ladies riskieren und auf ewig das Eis in ihren Gläsern klingen lassen. Nur Mitchum steht abseits, an den Tresen gelehnt wie einst, spricht mit dem Barmann oder läßt es bleiben, den Blick stets auf den Grund des Glases gerichtet, als schiene dort eine wärmere Sonne. Und vielleicht tut sie das ja auch. In dieser Bar namens Ewigkeit kann man den Blick lange aufs Glas gerichtet halten, denn Zeit spielt keine Rolle. Mitchum hat das schon zu Lebzeiten so gehalten. Und sein Blick verhieß immer: Meine Zeit wird kommen.

Am 6. August 1917 kam Robert Charles Duran Mitchum in Bridgeport, Connecticut, zur Welt. Der Vater geriet zwei Jahre später bei einem Arbeitsunfall auf einem Güterbahnhof zwischen zwei Puffer. Schon mit zwölf riß der kleine Mitchum von zuhause aus, wurde mit 15 wegen Herumtreiberei zur Arbeit als Kettensträfling verurteilt, verdiente sein Geld als Boxer und landete schließlich in Südkalifornien, wo er seine Freundin Dorothy heiratete und beim Flugzeugkonstrukteur Lockheed am Fließband anfing. Harte Schule, das übliche Zeugs. Bemerkenswert nur zweierlei: Mit der Frau war er bis zu seinem Tod verheiratet. Und bei Lockheed litt er unter Sehstörungen, Schlaflosigkeit. Psychosomatische Reaktionen zweifellos. Mitchum hätte darauf gesagt: „Für wen zum Teufel halten Sie sich, für Sigmund Freud etwa?”

Andere haben vor den Studiotoren herumgelungert oder als Kellner gearbeitet, um zum Film zu kommen. Mitchum hat nie vom Kino geträumt. Das Kino hat von ihm geträumt.

In Wirklichkeit sah das so aus, daß ein junger Mann, der die Arbeit in einem Schuhgeschäft satt hatte, 1943 über mehrere Ecken einen Job beim Film bekam. Er mußte sich in den Bus setzen, zweimal umsteigen, und landete irgendwo in der kalifornischen Wüste bei einem Filmteam, das einen Western drehte und jemanden brauchte, der mit Pferden umgehen kann. Das konnte Mitchum zwar nicht, aber seine Frau verdiente 80 Dollar im Monat bei einer Versicherungsgesellschaft, und da lernte er es eben. So fangen solche Geschichten an: Hundert enden in der Wüste, eine führt zu den Sternen. So läuft das.

Wenn jemand in seinem ersten Jahr in diesem Geschäft 19 Filme dreht, dann muß man sich nicht wundern, wenn er die Sache eher von der pragmatischen Seite sieht: „Ich spielte fast alles. Chinesische Wäschereibesitzer, Zwerge, irische Waschweiber, Schwuchteln. Ich spielte sogar einmal einen Journalisten. Ich weiß nicht, wie‘s war, ich habe den Film nie gesehen. Aber ich bekam Überstunden bezahlt. ” Natürlich ist nichts von alledem wahr, aber es zeigt, wie Mitchum zur Schauspielerei stand.

Zwei Jahre später war er trotzdem oben angelangt und bekam eine Oscar-Nominierung für The Story of G. I. Joe. Es folgten Regisseure wie Minnelli, Walsh, Cukor, Tourneur. Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich vorzustellen, daß es auf der anderen Seite der Kamera keinen großen Unterschied machte, mit welchen Regisseuren man arbeitet, solange das Studio die Rollen vorschrieb: „RKO machte zehn Jahre lang denselben Film mit mir. Sie waren sich so ähnlich, daß ich in sechs davon denselben Anzug und denselben Trenchcoat trug. ”

Ohne Wiederkehr

Das Publikum sah aber nicht den Anzug oder den Trenchcoat, sondern einen Mann, der in irgendeiner Weise verkörperte, was die Zuschauer auch fühlten. Und wenn es nur das Recht war, dieselben Fehler zweimal machen zu dürfen. Denn es war das Gesetz seiner düsteren Filme nach dem Krieg, daß die Leute aus der Vergangenheit nicht klug wurden. Machten sich Hoffnungen, gaben sich Illusionen hin, logen sich immer wieder in die eigene Tasche. Aber genau darum ging es: um das kurze trügerische Glück in den Armen einer Frau oder anderswo. Mitchum war nicht immer der Verlierer, aber wenn er es war, dann hat er aus dem Verlieren eine schöne Kunst gemacht.

Ein paar Frauen und Titel genügen, um sich zu erinnern, wie unausweichlich das Verderben war: Jane Greer und Out of the Past, Susan Hayward und The Lusty Men, Jane Russell und Macao, Jean Simmons und Angel Face, Ava Gardner und My Forbidden Past. Vielleicht waren es ja wirklich immer dieselben Geschichten. Aber sie hatten immer wieder neue, verdammt hübsche Gesichter, und das Unglück fühlte sich jedesmal anders an. Achternbusch hat mal geschrieben, nach River of No Return, wo Mitchum die Faxen satt hat und die Monroe einfach über die Schultern wirft, habe er den Sitz gewechselt, „damit man den Blutfleck unterm Stuhl nicht auf mich bezog. So hatte mein Herz geblutet. ”

Immer wieder spielte Mitchum den Mann, der sein eigenes Ende überlebt. So wurde er zum Buddha des amerikanischen Kinos: schläfrig, massig, weise. Manchmal scheint er tatsächlich zu schlafen, dabei geht sein Blick nur nach innen, wo er als einsamer Jäger die Wüsten seiner Seele durchstreift.

Diese tote Welt der enttäuschten Hoffnungen und verlorenen Illusionen ist sein Reich, seine Hölle. Dort durchlebt er seine Niederlagen immer wieder neu, ein Sisyphus des eigenen Schicksals, ein hoffnungsloser Wiedergänger des eigenen Geschicks. Auf der anderen Seite gab es den Prediger in Night of the Hunter, die Bestie in Cape Fear. Da kehrt er die Gewalt auf eine Weise nach außen, daß sie einem noch lange in den Knochen steckt.

Es wird erzählt, man habe Mitchum auf dem Set gesehen, wie er an den Rand des Drehbuchs immer wieder die Buchstaben NAR schrieb. Auf Nachfrage habe er gesagt, das bedeute „No Acting Required”: Kein Spiel erforderlich. Man darf sich davon nicht täuschen lassen. Mitchum hat es durch bloße Präsenz geschafft, jedem Film ein Gesicht zu verleihen. Und es gab Filme, die mit dieser Präsenz etwas anzufangen wußten.

Das ist ja das Wunder des Kinos, daß es sich das Leben mit einer Leichtigkeit anverwandelt, von der andere Künste nur träumen können. Es kann sich leisten, einen Schrank von einem Mann, der mit der Schauspielerei nichts am Hut hat, vor die Kamera zu stellen, und uns damit auf eine Weise zu berühren, daß man einen Moment lang tatsächlich glaubt, alles sei möglich. Wirklich alles. Man könne aus dem Dunkel der Säle auf die Straße treten und die Einsamkeit ertragen. Die Dinge auf die leichte Schulter nehmen. Im rechten Moment die richtigen Sätze sagen. Erkennen, wann man handeln muß. Wissen, was man tut. Trotzdem das Falsche tun.

Man darf das nicht geringschätzen, was einer wie er für uns getan hat. Wieviel Trost und Aufmunterung in seiner Präsenz lagen und immer liegen werden. Wieviel Weisheit und Erkenntnis. Es soll keiner glauben, Mitchum sei nur irgendein Schauspieler in irgendwelchen Hollywoodfilmen gewesen. Er war alles, wofür wir das Kino lieben.

Aber bevor wir uns in Betrachtungen verlieren, auf die Mitchum ohnehin gepfiffen hätte, legen wir eine Platte auf und hören zu, wie dieser Mann Calypso singt. Man muß sich das vorstellen wie das Brummen eines Kühlschranks beim Auftauen. Die Musik schaukelt durch die Luft wie ein Eiswürfel im Drink. Und dann kommt eine Stimme, die sich von nichts beeindrucken läßt und singt: „Let‘s put women and men together/ To find out which one is smarter. / Some say men, but I say no,/ The women play the men like a puppet show. ”
Mitchum ist tot, der Song läuft weiter.
MICHAEL ALTHEN

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