13. Oktober 2012 | Preisträger*innen | Der Gewinnertext 2012

Michael-Althen-Preis 2012 - der preisgekrönte Text

"Dr. House, Staffel 6, Episode 22 (Help me)" von Sarah Khan

Meine unerschütterte Beziehung zu der Serie Dr. House endete am 9. November 2011, als mein 29-jähriger Bruder in Hamburg an einem Herzinfarkt starb

Autor: Sarah Khan

Erschienen in Cargo vom 13. 10. 2012
http://www.cargo-film.de/blog/2012/oct/13/sarah-khan/

Die Beziehung zwischen einem Zuschauer und seiner favorisierten Serie ist nicht mechanisch. Was zwischen beiden entsteht, kann auch durch unerwartete Faktoren gestört werden. Ich glaube nicht mehr, dass einer Entfremdung vor allem eine fehlentwickelte Seriendramaturgie zugrunde liegt. Meine unerschütterte Beziehung zu Dr. House endete am 9. November 2011, als mein 29jähriger Bruder in Hamburg an einem Herzinfarkt starb. Er starb an einem Mittwoch. Am Abend vorher nahm ich die Folge 7/18 bei RTL auf, ich hatte ausnahmsweise keine Zeit, sie zu sehen. Ich verschob den Genuss auf den folgenden Tag, an dem alles anders kam. Da weinte ich, telefonierte viel, und wartete darauf, dass mein Mann aus England zurückkam, damit wir nach Hamburg in die Rechtsmedizin des Universitätskrankenhauses fahren konnten. Dort sollte ich meinen Bruder ein letztes Mal sehen. In einem Abschiedsraum aufgebahrt, eiskalt aus der Kühlung kommend, partiell bereits von Leichenflecken gezeichnet, fies tot.

Da die Todesursache nicht klar war, wollte die Familie eine Obduktion. Dass es eine Verbindung zu meinem House gab, merkte ich langsam. Ich fuhr nach Berlin zurück, wartete auf die Beerdigung, organisierte die Trauerfeier. Zwischendurch sah ich sicher Unterhaltendes, Ablenkendes im Fernsehen. Doch die aufgezeichnete Folge vom Vorabend des Todes konnte ich nicht anrühren. Heute weiß ich, ich hatte Schuldgefühle, meinen Bruder nicht gerettet zu haben, obwohl ich seit Jahren jede Woche diagnostische Medizin bei Dr. House studierte. «Bitte verzeih mir», heulte ich nachts.

Drei Wochen vor seinem Tod traf ich meinen Bruder, und mir fiel auf, dass er unter Schlafproblemen, einem gestörten Tag-Nacht-Rhythmus und unter heftiger Vergesslichkeit litt. Wo er ging und stand, ließ er seine EC-Karte, den Schlüssel, den Ausweis, das Handy liegen. Ich sprach mit anderen Menschen darüber, aber nicht mit ihm. Wir witzelten sogar, ob er neuerdings Crack rauchte. Ich setzte mich nicht mit ihm hin und sagte, lass uns über deine Gesundheit sprechen. Er war ein 29jähriger Mann mit großen sportlichen Erfolgen, bei seinem Tod amtierender Hamburger und Norddeutscher Meister im Kickboxen, sogar Deutscher Vize. Drei Wochen vor seinem Tod kochte ich ihm Spagetti mit einer gut gewürzten Knoblauch-Erbsen-Sahne-Sauce. Er wollte es am nächsten Tag wieder essen. Ich sagte: Nein, koch es dir selbst.
Er sagte: Von anderen gekocht, schmeckt Essen immer besser.
Ich stutzte über seinen charmanten Überredungsversuch, aber ich kochte nicht. Ich war als große Schwester gerade in einer hartherzigen, nörgelnden Phase mit ihm, get your shit together, was mich im Nachhinein belastet, aber mit House nichts zu tun hat.

House und ich aber hatten versagt, weil er eben doch keine Diagnostikerin aus mir machte. Ich erkannte nicht, dass mein Bruder an einer seltenen – vermutlich genetischen – Fettstoffwechselstörung litt, die seine Halsschlagader mit Plaquen verstopfte, und eine Koronarthrombose auslöste. Der junge Arzt, der nachts bei meinem Bruder war, und vor dessen Augen er kollabierte, entwickelte immerhin die richtige Arbeitshypothese. Er gab massiv Blutverdünner und massierte, rhythmisch abwechselnd mit zwei Feuerwehrmännern, über eine Stunde lang das Herz. Doch retten konnte er ihn nicht mehr. Gerettet hätte ihn nur die frühe Wahrnehmung eines lebensbedrohlichen Zustandes, für den es kaum Anzeichen gab, und die Feststellung der Ursache. Die Spezialität von Dr. House. Dafür wurde er erfunden.

Dr. House mit dem steifen, schmerzenden Bein, am Gehstock, humpelnd, ist ein Nachfahre von Sherlock Holmes. Detektivisch, egozentrisch, betäubungsmittelabhängig, genial, unbeirrt von sozialen Konventionen und ohne Empathie. Das Bullshit-Gelaber, bei Arztserien üblich (das die Muppet Show so schön persiflierte: Schalten Sie auch nächste Woche wieder ein, wenn sie Doktor Bob sagen hören wollen: «Sehen wir es von der guten Seite. Wenn er es nicht schafft, wissen wir wenigstens die genaue Zeit, wann er hinüber gegangen ist. Mu-har-har-har.»), wurde von dem sarkastischen House ins beleidigende Gegenteil gedreht. Er brachte die «Whodunit»-Formel ins Krankenhaus, suchte mit seinem Ärzteteam Krankheiten, die sich hinter diffusen Symptomen versteckten, und provozierte mit rücksichtslosen Methoden Indizien. Die sozialen und wohnlichen Verhältnisse des Patienten, vor allem seine Lügen, spielten oft eine Rolle. Die auf T-Shirts gedruckte, ganzheitliche House-Weisheit lautet: «everybody lies».

Ich habe House für seine radikale, fokussierte Intelligenz geliebt. Auch für den Darsteller, Hugh Laurie, einen britischen Comedian, der zur Black Adder-Truppe gehörte und mit Stephen Fry in diversen Formaten auftrat. Seine akzentfreie Verkörperung des House im fiktiven «Princeton-Plainsboro Teaching Hospital» war so überzeugend, dass die meisten Amerikaner glaubten, Hugh Laurie sei Amerikaner. Ich ging da viel weiter, ich glaubte House sei mächtig.

Episode 6/22 (die 132. insgesamt) ist untypisch dunkel, sowohl visuell wie auch emotional. Anfangs schenkt House seiner Chefin, der Direktorin und Ärztin Cuddy, ein antiquarisches Fachbuch. Sie traf die Entscheidung, mit ihrem Freund zusammenzuziehen, und sich den gequälten Begehrlichkeiten von House endgültig zu entziehen. Er schreibt als Zeichen seines guten Willens in das Buch: «Here is to a new chapter.» Doch ein neues Kapitel wird er selbst aufschlagen dürfen, denn Cuddy trennt sich am Ende der Episode von ihrem Freund und rettet House mit einem Kuss davor, wieder das Opiat Vicodine zu nehmen, den Entzug abzubrechen, die Karriere wegzuschmeißen.

Um diese Rettung zu motivieren, häuften die Autoren einen Alptraum auf: House wird mit einer Patientin konfrontiert, die in einem eingestürzten Parkhaus unter Geröll eingeklemmt liegt, und deren Bein amputiert werden muss. Der für den Unfall verantwortliche Kranführer wird als zweiter diagnostischer Fall von Houses Team behandelt – widerwillig, denn er gilt als Verursacher des Unfalles mit mehreren Toten. Nachdem House Coffeintabletten in dessen Jacke gefunden hat, glaubt er nicht mehr, dass Übermüdung der Grund war. Schließlich finden sie bei ihm eine Zyste im Wirbel. Am Unfallort zögert House die Amputation hinaus, er verliert seine professionelle Haltung und gesteht Cuddy, dass sein kaputtes Bein ihn zu einem beziehungsunfähigen Menschen gemacht hat. Am Ende muss er die Amputation ohne Betäubung durchführen. Ehrlich antwortet er der Patientin, dass die Schmerzen unvorstellbar sein werden. Einige Sekunden dieser überhaupt nicht splatterhaften Szene wurden übrigens für die RTL-Ausstrahlung geschnitten.

Auf dem Weg ins Krankenhaus stirbt die Frau durch eine Fettembolie. House ist verzweifelt. Bevor er das Selbstmitleid betäubt, kommt Cuddy zu ihm und gesteht ihm ihre Liebe. Das ist zum Heulen schön und tröstend, und doch stimmt etwas nicht an dieser Liebeslösung, die in einer früheren Staffel schon einmal als Halluzination auf Drogen erzählt wurde. Die Frage, ob es für House Liebe überhaupt geben kann, wird uns wohl bis zum Ende der Serie erhalten bleiben.

Die Episode vom Vorabend des Todes meines Bruders sah ich mir schließlich doch an. Sie war verspielt, lapidar. House fährt mit dem Auto zu einem Pumpgun-Wettbewerb und nimmt eine junge Kollegin mit. Diagnosen entstehen per Telefonkonferenz. Meiner Trauer heftete sich keine weitere Symbolik an, so kehrte ich ernüchtert zu House zurück. Der Auftakt der finalen Staffel 8 ist in meinem Kalender vermerkt. Ich sehe dem Ende von House entspannt entgegen.

Verluste sind etwas anderes.